Die siebenundfünfzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich und mein Bruder sind unglaublich behütet, in einer großartigen Familie, aufgewachsen. Unsere Eltern und auch alle anderen Familienmitglieder haben uns in allem was wir machten unterstützt und haben uns unglaublich viele unangenehme Dinge erleichtert oder sogar ganz abgenommen.

Mir ging es gut ich war zwar immer leicht übergewichtig aber ich hatte tolle Freunde, einen lieben Freund und in meinem freiwilligen sozialen Jahr wurde ich für meine großartige Arbeit und meine zuverlässige Art bewundert.

Trotzdem entschied ich mich dazu nach meinem sozialen Jahr eine Ausbildung in der Kommunalverwaltung zu machen. Was ganz anderes, aber durchaus auch eine Aufgabe die mir viel Freude bereitet hat. Aber wie das so ist, neuer Lebensabschnitt und irgendwie verändert man sich…

Irgendwann hatte ich das Gefühl es müsse doch noch mehr geben als dieses Leben. Ich fand auf einmal meinen Freund langweilig und schließlich trennte ich mich, während meine Mädels langsam “ruhiger”, “bodenständiger” wurden (so bodenständig wie man mit 20 eben ist) lebte ich förmlich auf, ging viel alleine weg und lernte jemand Neues kennen.

Als ich dann mit 20 von Zuhause auszog – in eine WG mit einer Freundin – kam erst mal der große Schock. Was man alles wissen und beachten musste, um was man sich kümmern musste. Ich kam im Leben an. Soweit auch okay, aber ich hatte inzwischen den Anspruch an mich, alles was ich tat, perfekt zu machen. Alles musste funktionieren. Die Ausbildung musste laufen, ich musste vor meinen Freunden perfekt sein und in meiner Beziehung sowieso.

Leider hatte ich die Rechnung ohne meine Mitbewohnerin gemacht, die mir irgendwann berichtete, dass sie in zwei Wochen ausziehen würde, weil sie eine Bekannte hatte, mit der sie zusammen ziehen würde. Zu dem Zeitpunkt hing ich in den Zwischenprüfungen. Hinzu kam, dass mein zweiter Freund Schluss machte (zu dem Zeitpunkt schon zum zweiten Mal – ich war ja auch so dämlich nach dem ersten Mal zu ihm zurück zu gehen).

Irgendwie alles etwas viel. Durch den Stress – neue Wohnung suchen, Freund weg, lernen für die Prüfungen und das Hin und Her mit meiner ehemaligen Mitbewohnerin – nahm ich zunächst, ich sag mal “ungewollt” ab. Aber als dann Komplimente von anderen kamen, wie gut ich aussehen würde begann ich das Ganze aktiv zu betreiben, ging täglich zum Sport und zählte Kalorien, wog mein Essen ab usw. 500 kcal am Tag waren das Ziel, Verabredungen mit meinen Mädels wurden abgesagt, es könnte ja was zu Essen geben.

Mein Leben bestand aus Sport, schlafen, Kalorien zählen und lernen. Ich war immer müde und erschöpft aber gleichzeitig auch zu 100% leistungsfähig. Nach einem 3/4 Jahr Hungern ging ich mit meiner Tante zu einer Beratungsstelle und begab mich, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich wirklich ein Problem habe, in therapeutische Behandlung, die auch zunächst anschlug. Ich hatte das Ganze zumindest soweit im Griff, dass ich nicht weiter abnehmen wollte. Zunehmen allerdings bitte auch nicht. – 2014 beendete ich meine Ausbildung – mit Bestenehrung – alle anderen gingen feiern, ich nicht.

Ich war müde und erschöpft und außerdem gab es ein Festessen. Ich grenzte mich weiter ab und entschloss mich, nach meiner Ausbildung doch noch das Studium im sozialen Bereich zu beginnen. Allerdings bekam ich nicht den gewünschten Platz an der Fachhochschule und schrieb mich für ein ähnliches Fach ein. Nach einem Semester schmiss ich und nahm eine Stelle mit unglaublicher Verantwortung in meinem erlernten Beruf an. Ich überlegte schon nach zwei Wochen, ob ich nicht doch lieber wieder kündigen sollte, Finanzen waren sowieso nie mein Ding, aber ich blieb, und bin immer noch da.

Inzwischen räume ich, wenn ich in meiner eigenen Wohnung schlafe (habe inzwischen auch wieder eine Mitbewohnerin) nächtlich den Kühlschrank aus, ich wache stündlich auf und esse was ich finden kann. Ich esse ALLES, auch die Sachen meiner Mitbewohnerin, welche ich ihr dann am nächsten Tag immer ersetze – peinliche Situation. Aber es ist irgendwie eine Art Ventil wenn ich nachts das esse, was ich mir tagsüber verbiete.

Da ich es nicht schaffe zu brechen gehe ich täglich ca. 3 Stunden zum Sport. “Sportbulimie” ist nun meine Diagnose. Die derzeitige Einzeltherapie hilft noch nicht viel. Witzigerweise habe ich das Bedürfnis nach nächtlichem Essen nicht, wenn ich bei meinen Eltern schlafe, daher bin ich vorübergehend wieder zu ihnen gezogen. Eigentlich unaushaltbar die Situation, aber es ist derzeit für mich die einzige Lösung, um nicht komplett zu verzweifeln.

Meine neue WG habe ich trotzdem noch, wenn auch nur tagsüber. Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass es irgendwann besser wird.

Ich versuche tagsüber normal zu essen, das klappt inzwischen auch ganz gut. Aber wenn die Fressattacken nachts dazu kommen (was jede Nacht der Fall wäre wenn ich in meiner Wohnung schlafen würde) schaue ich morgens in den Spiegel und sehe eine Frau mit der Figur eines Schwergewichtboxers.

Bei meinen Eltern ist es zwar nur einmal wöchentlich der Fall und dann nehme ich nicht die Sachen aus Ihrem Kühlschrank sondern fahre los und kaufe alles was mir an Süßigkeiten unter die Augen kommt, aber der Zustand ist unaushaltbar und jeden Tag der gleiche Rythmus, Arbeit, Sport Schlafen/Essen…

Kontakte gibt es kaum in meinem Leben und das Verständnis derer die geblieben sind, ist natürlich begrenzt, weil sie natürlich nicht die Erfahrungen machen und die Gedanken haben die ich empfinde…und immer dieser Gedankenkreis – Essen, Kalorien, Sport, bloß nicht zu viel essen, Schokolade, es ist zu viel, du bist fett und hast das langweiligste Leben der Welt, kein Wunder, dass sich niemand für dich interessiert, wo wärst du jetzt, wenn du damals anders gehandelt hättest, andere Entscheidungen getroffen hättest usw….

Ich will entspannt leben, frei sein, Freunde treffen, lachen und mich mögen wie ich bin. Vielleicht klappt es irgendwann, so wie noch vor ein paar Jahren…

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone