Die einundvierzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Solange ich zurückdenken kann, hatte ich immer den Wunsch abzunehmen. Einerseits weil ich mich immer zu dick fühlte, obwohl ich das nie war, andererseits auch, weil ich mir dadurch Aufmerksamkeit erhoffte. Von meiner Familie, meinen Freunden, einfach allen. Meine erste Diät begann ich mit 12, jedoch habe ich nie lange durchgehalten. Nach ein paar Wochen spätestens war der Gedanke ans Essen plötzlich wieder verschwunden und ich konnte wieder genießen ohne auf mein Gewicht zu achten.

Doch von einer Heilung kann man dabei nicht sprechen, denn die Gedanken machten nur eine Pause und kamen oft nach ein paar Monaten oder Jahren wieder. Ich habe auch einige Radikal-Diäten hinter mir, eine Woche lang nahm ich fast gar nichts zu mir. Doch natürlich ging auch das nie lange gut, denn es ging mir so schlecht, dass ich von selber wieder aufhörte und nicht mehr wollte.

Doch vor ca. zwei Jahren änderte sich viel in meinem Leben. Ich machte meine Matura und musste mich entscheiden, welchen beruflichen Weg ich gehen soll. Dies belastete mich sehr, denn ich hatte keine Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte. Daher begann ich aus bloßer Vernunft heraus ein Studium, das mir eigentlich keine Freude bereitete aber es erschien mir als beste Lösung, da man mir gute Jobaussichten zusicherte, was mir sehr wichtig war.

Ich ließ mir auch von vielen Leuten ins Gewissen reden und wollte es immer schon jedem recht machen. Ich war das schüchterne Mädchen, dem man ja vieles einreden konnte. Und es lief auch alles gut. Ich bekam super Noten, hatte eine tolle Familie und einen langjährigen Freund, der mir jeden Wunsch von den Augen ablas. Nach außen hin schien es keine Probleme zu geben. Doch nach einiger Zeit merkte ich, dass mir etwas in meinem Leben fehlte und die Unzufriedenheit wurde immer größer.

Und damit kam auch die Essstörung wieder, doch diesmal entschloss sie sich zu bleiben. Sie wurde zum wichtigsten Teil meines Lebens und half mir, alles andere zu verdrängen. Jegliche Unzufriedenheit wurde auf meinen Körper projiziert. All meine Energie und Kraft steckte ich in meine neue Aufgabe: Abnehmen. Immer weiter. Kalorien zählen, Tag für Tag, jede Sekunde. Alles andere wurde so unwichtig. Umso mehr ich abnahm, umso weniger spürte ich mich. Irgendwann verschwanden all meine Gefühle.

Ich dachte nicht mehr darüber nach, ob das Studium und mein späterer Beruf das richtige für mich waren. Ich dachte nur mehr an mein Gewicht und an die Waage, auf die ich mich jeden Tag stellte. Ich merkte nicht mal, wie sehr ich die Menschen um mich herum verletzte. Ich redete mir ein, dass ich genug aß und lediglich auf eine gesunde Ernährung achten wolle. Die Versuche meiner Mutter, mit mir über mein Problem zu reden, endeten dauernd in einem furchtbaren Streit, bei dem ich so tat, als wäre sie verrückt, mich magersüchtig oder krank zu nennen.

Das wenige Essen wurde zur Routine. Ich wusste genau, welche Lebensmittel verboten waren und welche ich essen durfte. In meinem Kopf drehte sich alles nur ums Essen, beziehungsweise Nicht-Essen. Dauernd war ich am Kalorienzählen und am Überlegen, was ich schon gegessen hatte, um ja nichts zu vergessen oder zu übersehen. Ich kam jeden Tag auf höchstens 400 Kalorien, manchmal weniger. Und ich überlegte dauernd, wo ich noch mehr einsparen könnte. Und es fiel mir überhaupt nicht schwer.

Obwohl mir irgendwann nicht mal mehr die kleinsten Hosengrößen in der Damenabteilung passten, bemerkte ich immer noch nicht, dass ich ein Problem haben könnte. Ich ging eben nur mehr in die Kinderabteilung einkaufen, denn besonders groß war ich nie. Die Monate vergingen, ich wurde immer weniger und die Streitereien mit meinen Eltern und meinem Freund wurden immer häufiger. Auf einmal begannen mich auch Leute auf mein Aussehen anzusprechen, mit denen ich vorher kaum ein Wort geredet habe.

Meine Freunde hingegen trauten sich nicht, mich darauf anzusprechen, da sie total überfordert waren mit dieser Situation. Irgendwann konnte ich nicht mal mehr die Stufen in unserem Haus hochgehen ohne Pausen einzulegen. Meine Periode hatte ich schon lange nicht mehr. Doch nicht mal das gab mir zu denken, obwohl mein sehnlichster und größter Wunsch immer eigene Kinder waren.

Doch die Stimme in meinem Kopf, die mich dazu zwang abzunehmen war einfach noch zu stark und übermächtig. Immer wieder sagte ich mir, ich würde schon irgendwann wieder gesund werden. Ich hatte auch endlich die Aufmerksamkeit von allen Seiten, die ich mir immer so wünschte, obwohl es mir immer noch unangenehm war, wenn ich auf mein Gewicht angesprochen wurde.

Zunehmen wollte ich auf keinen Fall. Doch nach einem besonders heftigen Streit mit meinem Freund versprach ich ihm unter Tränen, ich würde mir Hilfe suchen. Dies versuchte ich trotzdem noch hinauszuzögern, denn ich befürchtete, die Therapeuten würden mich zum Zunehmen zwingen. Nach langem Ringen mit mir selber habe ich dennoch ein Institut für Essstörungen kontaktiert und endlich einen Termin ausgemacht. Von da an ging alles sehr schnell. Ich begann eine Therapie und es schien eine Zeitlang wirklich aufwärts zu gehen. Ich begann, mir hin und wieder etwas zu gönnen, doch das war ein Fehler.

Denn oft konnte ich nicht mehr aufhören und ich bekam regelmäßig Heißhungerattacken, in denen ich all das in mich hineinstopfte, auf das ich so lange verzichtet habe. Süße, fettige Speisen standen ganz oben auf der Liste meiner Begierde. Ich verlor jegliche Kontrolle und fühlte mich danach wie ein Häufchen Elend. Von nun an begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Auf Tage, an denen ich fast nichts aß, folgten Tage, an denen ich viel zu viel aß. Ich war fertig mit meinem Leben und traute mich nicht mehr auf die Waage zu steigen. Sie war mein Erzfeind geworden.

Ich fühlte mich, als würde ich nichts mehr schaffen in meinem Leben. Noch schlimmer traf es mich, wenn mir Leute sagten, ich würde wieder gesünder aussehen, nicht mehr so krank und verhungert. Ich wusste, sie meinten es nur gut, aber für mich war es wie ein Schlag ins Gesicht. Und dies ist der Punkt, an dem ich jetzt stehe. Ich habe keine Ahnung, wie es in Zukunft weitergehen wird, aber ich habe mir geschworen, nicht aufzugeben.

Jeder Tag ist zwar ein Kampf, der mich sehr viel Kraft kostet, aber wenn ich an meine Lieben denke und die Zukunft, die ich mir wünsche, dann weiß ich, es lohnt sich. Die Gedanken ans Essen begleiten mich nach wie vor jede Sekunde meines Lebens, doch ich werde nicht aufhören, dagegen anzukämpfen. Ich habe gelernt, dass tiefere Probleme hinter meiner Essstörung stecken. Und diesen bin ich auf der Spur.

Ich überlege, mein Studium abzubrechen und etwas ganz Neues zu beginnen. Doch mir fehlt noch sehr viel Mut und Überwindung, um voll und ganz meinen eigenen Weg zu gehen, ohne mich von anderen beeinflussen zu lassen. Das wichtigste ist jedoch, niemals die Hoffnung zu verlieren und sich bewusst zu sein, dass viel Schönes in dieser Welt existiert, auch wenn man es oftmals nicht sehen kann hinter dem grauen Schleier der Essstörung.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone