Die achtundsechzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Seit Jahren schwankt mein Gewicht zwischen 50 Kilo und 60 Kilo, und phasenweise sogar mehr, auf und ab. Seitdem ich die Magersucht(2010-2013), zumindest körperlich, überwunden habe und mich im Normalgewicht befinde, hat die Essstörung drei Phasen angenommen, die sich regelmäßig abwechseln und immer wiederholen.

Da gibt es zuerst die Scheißegal-Phase. Ich nenne sie auch Fressphase. In dieser Zeit fällt mir das Essen am leichtesten, denn es ist mir egal, ob ich zunehme. Und es ist mir auch egal, ob ich mich ungesund oder gesund ernähre. Ich könnte sogar täglich Fastfood essen, oder mir Fertigprodukte kaufen und davon leben. Und ob die Lebensmittel überwiegend aus Kalorien, Eiweißen, Fetten oder Kohlenhydraten bestehen ist dann sowieso nebensächlich.

Dann esse ich wonach mir ist und esse dadurch grundsätzlich zu viel, sodass ich in dieser Phase oft reichlich zunehme. Denn es muss dann immer gleich die Schokolade, das Eis, die Pizza, der Döner, der Auflauf und das Hähnchen an einem Tag sein, weil ich mich nicht enscheiden kann womit ich anfangen soll. Schließlich fällt es mir doch jetzt gerade leicht und ich habe mir alles das so lange verboten.

Wer weiß, wie lange diese Phase wieder anhält und ich mir dieses Lebensmittel noch erlauben kann. Ich bin dann den ganzen Tag am Essen und stürze mich von der einen Kleinigkeit in die Nächste. Ich esse dann hier mal was und dann da mal was und das so lange, bis von allem am Ende nichts mehr übrig bleibt und ich mich gut gesättigt fühle. Ich bin dann total süchtig nach diesem Völlegefühl, welches ich dann „chronisch“ habe.

Ich bin erst dann zufrieden, wenn ich diese Völle wirklich fühlen kann. Und dieses Völlegefühl ist noch angenehm. Ich fühle mich nie überfressen, weil ich die Lebensmittel nach und nach zu mir nehme und bewusst und kontrolliert viel esse. Es ist eigentlich immer gut am Ende des Tages. Aber ich komme täglich weit über meinen Tagesbedarf und es ist mir scheißegal. Ich lasse mich dann so richtig „gehen“.

Anschließend kommt dann immer die Hunger-Phase oft zusammen mit der bulimischen Phase im Wechselspiel.

Dann kommt das schlechte Gewissen und zwingt mich auf die Waage, denn in der Scheißegal-Phase, ist auch das Wiegen scheißegal und wird gemieden. Ist die Zahl dann bekannt, beginne ich wieder mit der Disziplin und arbeite gegen die Pfunde. Mir ist gar nichts mehr egal und das Gewicht hat oberste Priorität. Fettpolster sind ein No-Go und ich lege ganz viel Wert darauf, dass ich mich low-carb und low-fat ernähre und auch der Kalorienbedarf deutlich reduziert wird, damit ich zeitnah abnehme.

Der Selbsthass wird aktiviert, damit ich die Disziplin bloß nicht verliere und die Erfolge größer sind. Denn nur so schaffe ich es mich zum Sport zu motivieren und mir Lebensmittel radikal zu verbieten. Ich quäle mich, zwinge mich, hasse mich und verabscheue mich und dann gelingt es mir auch mir alles zu verbieten, was mich hässlich und dick macht. Ja, und schon denkt die Magersucht wieder. Oft komme ich an den Punkt, dass ich kraftlos werde und depressiv. Dann vernachlässige ich den Sport und bekomme Fressdruck, denn ich brauche diese Völle wieder, um zufrieden zu sein.

Ich werde gierig und verliere die Kontrolle. Ich fresse alles das, was auch in der Scheißegal-Phase erlaubt ist. Nur diesmal passiert es einfach. Es ist dann unkontrolliert, überfällt mich und es muss dann gleich und sofort sein und auch alles auf einmal in den nächsten 30 Minuten. Danach ist mir so schlecht, dass mir das Essen schon alleine wieder hochkommt und ich die nächste Stunde im Badezimmer verbringe, um diese Mengen an Essen bewusst und von mir provoziert wieder loszuwerden.

Das schlechte Gewissen hat gewonnen und in den folgenden Tagen wird wieder diszipliniert gefastet, um den Fressanfall auszugleichen. Diese Phase geht oft so lange, bis mein Gewicht mindestens an dem Punkt ist, wo es war, bevor die Scheißegal-Phase anfing.

Ist das Ziel erreicht beginne ich meist in naher Ferne von vorne.

Es gibt keine Phase, in der ich wirklich genießen kann. Jede Phase bedeutet Stress und ich esse nie gerne. Sogar in der Scheißegal-Phase esse ich eigentlich nur wie ein Roboter, der dieses Programm läuft, ganz ohne Geschmack, Empfindungen und Gefühle oder was Essen auch sonst noch so auslösen kann. Da bleibt dann eben nur das schlechte Gewissen aus.

Ich vergleiche es oft mit einem Urlaub. Dann werde ich faul. Esse, als lebte ich in Vollpension und vernachlässige die körperliche Aktivität enorm. „Das, was sich andere im Urlaub erlauben, darf ich mir doch auch ein paar Wochen gönnen.“, ist dann meine faule Ausrede für dieses Extrem. Es ist so eine Art Belohung, für die Höchstleistung – das Hungern – die ich die letzten Wochen und Monate gebracht habe.

Vor kurzem ist etwas Neues passiert.

Die Essstörung hat sich verändert und ich befinde mich gerade in keiner dieser Phasen. Ich weiß, ohne euphorisch zu sein, dass es vielleicht gerade beginnt „gesund“ zu werden. Denn dieses Wochenende hat mich an mein Thema gebracht. Die Frage nach dem „Warum?“ ist zumindest teilweise beantwortet und ich kann die Essstörung jetzt viel besser verstehen und weiß, wofür sie da ist.

Vor ein paar Tagen war ich zu einem Herbstausritt eingeladen und es gab zur Begrüßung Kaffee und ein Stück Apfelkuchen mit einer Kugel Apfel-Zimt Eis und Vanillesoße. Alles hausgemacht, Fairtrade und bio. Wir saßen als Frauenrunde zusammen in einer kleinen antiken Stuben und haben dort auch im Nachmittag nach dem zweistündigen Ausritt noch Glühwein getrunken und Häppchen, verschiedene Brote mit Dips und Suppen gegessen. Dazu gabe es dann noch verschiedene Beilagen. Am Ende des Tages war ich dann bei vielen Kalorien.

Am folgenden Tag war es ähnlich. Da sind ein guter Freund und ich abends im Speiselokal essen gewesen und haben danach noch bei McDonald‘s Nachtisch gegessen. Morgens habe ich schon kalorienlastig gegessen und mittags habe ich mir ganz viel Zeit gelassen etwas umfangreicher und aufwendiger zu kochen. Somit bin ich auch an diesem Tag bei vielen Kalorien gelandet.

Dieses Wochenende war ein extremer Kampf zwischen Heute und Vergangenheit. Ich hatte jeden Abend schlimme Panikattacken, weil mein Körper die schlimmsten Dinge erinnert hat, die er mit den großen Essensmengen assoziiert. Ich habe Tavor genommen, war total erschöpft und mein Körper kam trotzdem nicht zur Ruhe. Ich hatte mit Herzrasen, Schweißausbrüchen, Kopfschmerzattacken und ständigem Zittern am ganzen Körper zu kämpfen.

Schlafen konnte ich nicht, obwohl ich so erschöpft war. Tavor konnte ich auch wie Lutschbonbons einwerfen. Der Unterschied ist nur, dass ich weder einen Fressanfall hatte, noch in die Scheißegal-Haltung gekommen bin und auch kein schlechtes Gewissen habe und unbedingt wieder Kalorien einsparen und verbrennen will. Ich weiß, wie das Dünnsein schmeckt. Und ich habe endlich auch erfahren, wie das Genießenkönnen schmeckt. Ja, ich habe zu viel gegessen. Und ja, ich werde davon zunehmen. Aber es treibt mich diesmal nicht in ein Motivationstief, dass ich mich Wochen über Wochen „gehen“ lasse und es so weiter laufen wird. Nein. Und es treibt mich auch nicht in den radikalen Verzicht oder ins Erbrechen. Es ist anders. Denn ich habe bewusst mehr gegessen. Nicht mit dem Ziel zuzunehmen. Nicht mit dem Ziel „voll und zufrieden“ zu sein. Ich habe bewusst gegessen, um zu genießen, um zu erlauben, um zu gönnen.

Mein Ziel ist es die nächsten Tage und hoffentlich auch Wochen oder Monate normal weiter essen zu können, ohne bewusst auszugleichen, ohne den Sport zu vernachlässigen und mich gehen zu lassen, weil es doch jetzt sowieso zu spät ist, nach diesem Ausrutscher, und ohne die Kalorien radikal zu reduzieren oder das Zuviel auszukotzen. Ich möchte weiterhin Sport machen, jeden Tag kochen und dreimal täglich essen, oder eben immer wieder kleine Mengen am Tag, sodass ich mein Gewicht halte und das esse, was ich gerne mag.

Ich möchte mich nicht nur nach einem strengen Ernährungsstil richten. Ich will das Essen essen und nicht Kalorien, Eiweiße, Fette oder Kohlenhydrate. Ich möchte eine Ernährungsweise, in der alles erlaubt ist, sowohl ab und an mal eine Süßigkeit, als auch Tage, die sonst als Sünde oder Zuviel gewertet wurden, die dann einfach mal dazu gehören. Ich möchte Zunahmen und Abnahmen passieren lassen, ohne nach beidem bewusst zu streben. Und ich möchte mich ohne Ängste wiegen können, sodass mein Selbstwert unabhängig der Zahlen wird.

Es hat sich fast von alleine unglaublich viel getan, obwohl ich mich nicht bewusst mit der Essstörung auseinandergesetzt habe. Mit einem Mal ist vor meinem inneren Auge der Tag ganz präsent, an dem ich entschieden habe zu hungern und für mich wird die Essstörung so klar und eindeutig. Ich bin diesen Geistesblitzen dankbar. Jetzt kann ich damit arbeiten und weiß welche Denkfehler ich verändern muss und welche negativen Erfahrungen heute erneut, aber positiv, erfahren werden müssen, damit es besser werden kann. Ich glaube, ich bin jetzt erst bereit hinzuschauen. Gewusst habe ich das alles schon immer. Ich wollte davon nur nichts wissen. Der Scham war so groß.

Meine Mutter ist eine narzisstische Persönlichkeit und wir mussten die perfekten Kinder sein. Sie hat versucht, sich ihre Wunschkinder so zu gestalten, wie sie uns gerne hätte. Auch das Gewicht war von großer Bedeuutung. Mein Bruder war schon immer richtig dürr und konnte essen was er wollte. Er nahm nie zu. Wer kennt das nicht von seinen kleinen Brüdern. Er war immer mager und zerbrechlich. Meine Mutter hat ihn geliebt und gewogen wurden wir regelmäßig von ihr, weil sie so ihre Traumvorstellungen von unseren Körpern hatte. Mein Bruder gefiel ihr so, er sollte nur nicht weniger werden.

Und ich war ihr grundsätzlich zu fett. Ich war die, die täglich Süßigkeiten gegessen hat. Die, die sich wohl in ihrem Körper fühlte, auch wenn sie kräftig gebaut war. Ich war nie fett, aber leichtes Übergewicht hatte ich immer. Ich wog früher mehr, als ich heute bin. Sätze wie: „An deiner Stelle würde ich mal weniger Süßes fressen. Du bist viel zu fett. Guck dich mal an. Du passt in keine Hose mehr rein und alle Hosen, die ich dir kaufe, sind eigentlich für 14-Jährige. Da schämt man sich ja fremd.“ Eigentlich, sind es ja nur Worte, aber mich haben sie verletzt. Jedes Mal, wenn meine Mutter eine Zunahme auf der Waage sah, hat sich mich gehasst, abgewiesen und mit Liebesentzug gestraft. Ich meine, geliebt hat sie mich nie, aber wir sind miteinander ausgekommen, dann aber hat sie mich ihren Hass erst recht spüren lassen.

Bis ich mich entschieden habe zu hungern und abzunehmen. Mindestens so dünn zu werden wie mein Bruder es war, und das konnte ich nur realisieren, als mein Körper das Untergewicht erreichte. Ich war stolz und hoffte meine Mutter sei es auch. Fehlanzeige. Sie bekam dann von Therapeuten zu hören, dass ich magersüchtig sei. Und ich bekam stattdessen Vorwüfe zu hören, dass ich mich nicht so anstellen soll und mich da in etwas hineinsteigern würde. Und ich wollte doch nur ihre Liebe. Also hungerte ich weiter in der Hoffnung, ihr mit meinem Körper irgendwann gut genug zu sein.

Heute habe ich immer noch Angst, wenn ich gewogen werde und weiß, dass es eine Zunahme sein wird. Ich mache mich so verletzlich und angreifbar. Zumindest dann, wenn mich jemand Vertrautes wiegt. Angst, dass ich dann abgewiesen werde, weil ich versagt habe und man sich für meine Schwäche dann fremdschämen muss. Denn wer will schon mit so einem fetten Kind auf die Straße gehen? Peinlich ist das doch nur. Ja, diese Gedanken quälen mich und ich will sie verändern.

Ich möchte fühlen können, dass ich auch gut genug bin, wenn ich zunehme. Ich möchte mich auf die Straße trauen und weiterhin Sport treiben, auch wenn ich zugenommen habe. Anstatt „So wie du aussiehst kannst du doch kein Sport machen. Wenn du schon so viel isst und davon so fett wirst, kannst du doch diesen Körper der Öffentlichkeit nicht antun. Das wäre unzumutbar.“ möchte ich sagen können „Ich habe zugenommen und mache jetzt Sport, damit ich einen schönen definierten Körper habe und die Zunahme auch gut und trainiert aussieht.“ Ich möchte so weit zunehmen, dass meine Hosen wieder passen. Mir sind gerade alle Hosen zu groß geworden.

Ich möchte sportlich aktiv bleiben, egal wie mein Essverhalten an dem Tag aussah und mich für keine Figur, die ich habe, schämen. Ich möchte weibliche Rundungen bekommen und mich damit wohlfühlen, auch wenn ich dann breiter werde. Dann ist das so. Ich möchte vor allem das Gewicht erreichen, mit dem ich Weiblichkeit fühle und auch dann, wenn es die Zahl ist, die mich früher „getötet“ hat.

Ich will keinen bestimmten Ernährungsstil, der mir Sicherheit gibt, weil ich so ziemlich nur das Gleiche essen darf. Ich will nicht das perfekte Gewicht anstreben, welches ich nur mit Verzicht und Disziplin halten kann, weil es mir die Sicherheit gibt, dass ich mich nicht schämen brauche und niemand etwas blödes zu meiner Figur sagen wird, weil ich doch den Idealen entspreche. Die Ideale kotzen mich an.

Ich will geliebt werden für das was ich bin, egal welches Gewicht mein Körper hat. Und ich brauche Unterstützung dabei und Verlass von Menschen, die mir diese Sicherheit geben, dass sie mich lieben wie ich bin, egal was mein Körper is(s)t. Keine Ernährungsweise kann mir diese Sicherheit, nach der ich eigentlich die ganze Zeit suche, geben. Und ich verstehe auch endlich, warum die Therapeuten in der Traumaklinik aus der Essstrukturgruppe immer gesagt haben, dass Nähe die Heilung ist.

Nähe ist die Heilung. Gesellschaft ist die Heilung. Liebe ist die Heilung. Zusammen essen, genießen und Spaß haben. Keinen Gedanken an das Gewicht oder das Wiegen verschwenden.
Das ist es, was mir gut tut und mir hilft von der Kontrolle und der „Zucht und Ordnung“ wegzukommen. Es tut mir gut in Gesellschaft zu essen, weil die Atmosphäre viel lockerer ist, viel freier und wir alle genießen können.

Wenn ich alleine da sitze, Kalorien zähle und denke mit jeder Kalorie ein Gramm zuzunehmen schränkt mich das enorm ein, weil ich dann sofort Konsequenzen einleite, verbiete und verzichte. Ich brauche Ideen, wie ich es in meinem Alltag schaffen kann frei von der Essstörung zu werden und diese Weg mit dem neuen Wissen weiterzugehen. Ich will auch lernen, alleine genießen zu können, ohne, dass es im Fressanfall endet, oder die bösen Stimmen dann doch wiederkommen.

Ich will verstehen, dass ich niemandem mit meinem Körper dienen muss. Egal ob es das Wunschgewicht ist, was mein Nachbar meint, welches gut für mich wäre, oder ob es um sexuelle Bedürfnisse geht, die sich jemand an mir holen will. Ich will, dass mein Körper mein Körper wird, um mir zu gefallen.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone