Die zweite Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere lebenshungrige Frau, die ihre Geschichte in Form eines Briefes offen mit uns teilt:

 

Lieber Papa,

ich glaube du weißt, wie sehr du mich verletzt hast. Wie sehr du mich immer noch verletzt.

Es begann mit der Trennung, oder eher noch, mit deiner neuen Freundin, die mich hasste und die dir doch so viel wichtiger erschien, als deine kleine, pummelige, verschüchterte Tochter, die nichts mehr wollte, als dir zu gefallen.

Papa, wegen dir war ich gut in der Schule, wegen dir habe ich mich so angestrengt, wegen dir war es mir so wichtig. Weil ich dachte, es sei dir wichtig. Ich dachte, du würdest mich dann mehr lieben. Ich dachte, du wärest stolz auf mich.

Aber egal wie sehr ich mich anstrengte, deine Aufmerksamkeit konnte ich nie gewinnen. Zumindest nie dauerhaft.

Mit jedem Kilo, dass ich verlor, dachte ich, könnte ich mir ein Stückchen deiner Anerkennung verdienen. Und mit jedem Kilo, dass ich nun zunehme, denke ich, ich verliere diese Anerkennung wieder. Falls ich sie überhaupt je hatte.

Diese verdammten Fressattacken lassen mich fühlen wie ein Nichts. Ich mache alles zunichte, was ich erreicht habe, als ich so viel abgenommen habe.

Ich habe beinahe wieder 12 Kilo zugenommen. In zwei Monaten. Alles, was ich mir in 4 Monaten mühsam vom Leib gehungert habe. Die 4 Monate frieren, die 4 Monate in fast kompletter sozialer Isolation, die 4 Monate hungern – scheinen ganz umsonst, angesichts der Tonnen von Essen, die ich nun fast täglich in mich reinschaufele.

Ich dachte immer, dass Selbstdisziplin das allerwichtigste in unserer Familie ist, dass mein Opa mich dann liebt, wenn ich viel Sport treibe, wenn ich gute Noten schreibe, die beste in meiner Klasse bin. Dass er mich dann wenigstens erkennt und mich nicht angesichts meiner beiden perfekten Cousinen vergisst.

Zwischen meinen erfolgreichen und begabten Cousinen und Onkeln und Tanten kam ich mir immer dumm und faul vor, ein richtiger selbstzufriedener Versager.

Nur weil mir andere Dinge Spaß machten. Nur weil ich es liebte zu genießen, und weil ich schon immer den Trost in Süßigkeiten fand, der mir von anderen Personen verwehrt blieb.

Vielleicht bin ich ja ein Mensch, der halben Sachen. Möglicherweise bin ich zum Mittelmaß geboren. Aus mir wird niemals eine talentierte Sportlerin oder die beste meiner Klasse. Ganz einfach, weil es mich entkräftet, mich ständig mit anderen zu messen, mich ständig zu vergleichen, ständig unter Vollspannung zu leben und auf Hochtouren zu arbeiten.

Lieber Papa, du bist nicht Schuld an meiner Essstörung. Aber du hast mir verdammt viel mit in die Wiege gelegt, was du besser für dich hättest behalten sollen.

Ich weiß, dass auch du ein gestörtes Essverhalten hast. Es ist nicht normal, den ganzen Tag über nichts zu essen, um sich dann nachts 6-10 Nutellabrote einzuverleiben. Du wirst immer dünner. Deine Augenringe graben sich immer tiefer in dein Gesicht. Dein neuer Job frisst dich auf, er frisst unsere ganze Familie auf und du weißt das. Ich mache mir Sorgen um dich.

Aber ich mache mir auch Sorgen um mich selbst, und ich weiß, dass es mir niemals besser gehen wird, wenn ich weiter auf dich warte. Wenn ich weiter darauf warte, dass du dich plötzlich anfängst, doch für mich zu interessieren, wenn ich weiter auf deine Anerkennung warte oder dass du mir zeigst, dass ich dir wichtig bin, werde ich womöglich niemals gesund.

Und ich will gesund werden. Ich bin fest entschlossen, wieder zu leben, richtig zu leben, nicht nur dahin zu siechen, vor mich hin zu vegetieren, sondern zu handeln, zu genießen, frei zu sein.

Bald schreibe ich mein Abitur und in der letzten Zeit ist es mir schwer gefallen, meine Kräfte auf das Lernen und meine Heilung zu verteilen. Aber ich habe erkannt, was mir momentan wichtiger ist.

Ich habe erkannt, dass meine Noten gut genug sind, um mir einen Fallschirm zu bilden, falls ich  in den Prüfungen schlecht abschneiden sollte.

Ich habe erkannt, dass mein Leidensdruck groß genug ist, um jetzt etwas zu verändern. Jetzt. Und nicht erst in vier, fünf oder zwölf Monaten.

Ich habe noch einen langen Weg vor mir. Die Therapie ist schonmal ein Anfang. Ich werde lernen müssen, meine Ansprüche an meine schulischen Leistungen herunterzuschrauben, wenn ich wirklich gesund werden will. Ich werde lernen müssen, mich so zu akzeptieren wie ich bin.

Aber ich glaube, das wichtigste habe ich schon gelernt.

Dir und auch mir zu verzeihen. Für alle Fehler, die wir aneinander und uns selbst begangen haben.

Ich hab dich lieb, aber ich brauche deine Bestätigung nicht mehr.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone