Die zweiunddreißigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Woher das kommt, warum es so passiert ist, keine Ahnung – plötzlich war es da, das Essproblem.

Meine Familie ist eine wie viele, unzufriedenes Paar, das eigentlich nicht harmonierte, aber nachdem meine Mutter schwanger war, wurde – wie es sich für die tiefste Oberpfalz gehört – geheiratet. Ich war dann, wie meine Mutter es nannte, das Kind der Pflicht. Es ist nichts Schlimmes passiert in meiner Kindheit, aber ich habe gelernt, dass es oft der stete Tropfen ist, der den Stein höhlt. So war es wohl auch bei mir. Meine Eltern waren immer darauf bedacht, zu arbeiten, etwas zu erreichen und eigentlich waren wir Kinder irgendwie nur störend. Dennoch war die Kindheit bis ich ca. elf war, sehr schön. Wir waren wilde Landkinder, die die meiste Zeit bei der Oma waren. Ich war ein schlechter Esser, ein dünnes Kind, das eigentlich nichts mochte, was auf den Tisch kam. So hab ich damals schon oft von Oma Süßigkeiten bekommen, damit ich überhaupt etwas aß. Das Faible für Süßes ist geblieben.

Nach dem Hausbau und meinem Wechsel aufs Gymnasium fing es langsam an. Mein Vater war zum einen der Meinung, dass ein Mädchen kein Abitur bräuchte und zum anderen gäbe es genug zu arbeiten zu Hause. Ich hatte mir das aber in den Kopf gesetzt. Bei uns auf dem Land war das auch Anfang der 80er noch so, dass die Kinder aus besserem Haus dort waren und ich als Arbeiterkind eher die Ausnahme war. So tat ich mich durchaus schwer, da ich nicht mithalten konnte mit Kleidung, Urlauben, Taschengeld etc. – wurde (unbewusst) auch dafür gemoppt.

Gesagt hab ich von all dem nichts, wie immer – meine Eltern hatten genügend Sorgen und ich wollte ja unbedingt dorthin. Eigentlich war es immer so, dass ich funktioniert habe, ein braves Kind zuhause war, das nicht weiter auffiel und um das man sich nicht sorgen musste. Das einzige, was meinen Eltern immer auffiel, war mein „Dünnsein“, dann wurde auch über mich gesprochen. Mit der Pubertät hörte das aber dann auf, es zeigten sich Rundungen, ich hatte wirklich große Probleme mit den Veränderungen an meinem Körper und begann zu fasten- was mir kleinem Zuckerjunkie aber nicht gelang. Und irgendwann begann es, das attackenartige Fressen und heimliche Indenmundschieben und auch irgendwann dann auch die Versuche, das wieder los zu werden.

Es gab Zeiten, in denen ich keine Essprobleme hatte und es gab Zeiten, da verschwand innerhalb von Minuten die halbe Speisekammer – meine Eltern bemerkten nichts, waren wohl eher froh, dass ich anscheinend jetzt ein besserer Esser war. Ich wurde also noch unscheinbarer für sie.

Nach dem Abi ging ich in die nächste große Stadt, machte meine erste Ausbildung (im Nachhinein eine von vielen, für die ich überqualifiziert war). Ich traute mir aber nichts zu – ich solle mir ja nicht so viel einbilden. Ich hatte nach außen hin oft eine große Klappe, innerlich war ich unsicher, hielt mich von vielem fern. Schämte mich oft: wegen meiner Figur, meines Aussehens, meiner Dummheit etc. Es gab Zeiten, da hab ich einen Supermarkt wieder verlassen, weil ich dachte, jeder würde von mir denken, wie hässlich, fett und ungepflegt ich wäre.

Dann kamen rebellische Zeiten – mit pinken Haaren, Gruftiklamotten, etc., es kamen dunkle Zeiten (unbemerkt für andere) in denen ich sogar die Zuckerdose leer aß, wenn nichts anderes greifbar war. Es gab aber auch gute Phasen, in denen Essen nicht das große Problem war. Ich fand eine Freundin, die mit mir hungerte, mit mir fraß – in einem Ausmaß, das man heute gar nicht mehr umschreiben kann. Als diese sehr sehr krank wurde durch den Raubbau an ihrem Körper, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich etwas ändern musste, wenn sich was ändern sollte. Ich begann zu joggen…mitten in der Nacht, wenn es sein musste…alles besser als fressen und kotzen… Ich hatte keine Lust mehr auf sinnlose Einkäufe, Fressorgien, Abführmittel, Sauerkrautsaft morgens um halb vier etc.

Mit einigen Ausrutschern bis noch vor 10 Jahren habe ich das auch gut in den Griff bekommen. Das Körpergefühl jedoch ist geblieben und oftmals dieser Minderwertigkeitskomplex und dieses unglaubliche Gefühl, dass jeder mir ansieht, wie hässlich, fett und ungepflegt ich doch bin, erkennt, dass ich viel zu dumm bin für den Platz, den ich hier im Leben eingenommen habe.

Ich hasse Fotos von mir, bin aber dennoch süchtig nach Spiegeln.

Ich bin nun Mitte 40, seh angeblich noch etwas jünger aus und bin ganz sicher kein oberflächlicher Mensch, außer mir selbst gegenüber. Seit der magischen 40 habe ich das Problem, dass eben doch auch mal was an den Hüften hängen bleibt, ich versuche mich in Ernährungsformen, die mir helfen sollen, merke aber schnell, dass mich das dann wieder in das ständige Nachdenken über Essen bringt und kontraproduktiv ist, ich dann heimlich wieder Süßes in den Mund stecke, als würde jemand mir sagen, dass ich das nicht tun soll. Ich habe Probleme bei so vielen Dingen: baden gehen, von Herzen locker sein und nicht zuletzt beim Sex, was eine Beziehung auch immer wieder schwierig macht. Ich kann Komplimente schlecht annehmen, bin aber ständig auf der Suche nach welchen.

Ich wünsche allen jungen Mädels, dass sie kein solches Selbstbild entwickeln, weil es irgendwie alles im Leben bestimmt!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone