Die zwanzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
Ziemlich genau ein Jahr ist es her, dass ich mich und mein Leben fast aufgegeben hätte.
Im Sommer 2013 habe ich Benny kennengelernt und in ihm den perfekten Mann gesehen. Ich habe ihn, sein Selbstbewusstsein, seinen Freigeist, seine Muskeln auf ein hohes Podest gestellt. Wir haben uns im Freibad kennengelernt, es hat zwei Monate gedauert bis wir zusammenkamen und wir hatten eine wirklich wahnsinnig schöne Anfangszeit. Obwohl er mich mit meinen damals 72kg kennen und lieben gelernt hat, bestand in meinem Kopf immer die Idee, dass er nur bei mir bleibt wenn ich dünn und schön werde. Ich wusste er steht auf dünne, sportliche Frauen. Einmal hat er zu mir gesagt, dass ich mittlerweile schon etwas viel Bauch hätte. Die Blicke der anderen Frauen wenn wir irgendwo hinkamen habe ich immer so interpretiert, dass sie dachten, was will so ein gutaussehender Mann, mit so einer unförmigen Frau wie mir. Der Gedanke, dass er mich früher oder später für eine schönere und dünnere Frau verlässt war unerträglich.
Im Januar 2014 ging ich dann für 6 Wochen nach Afrika, machte einen Auslandseinsatz während meiner Ausbildung zur Krankenschwester. Ich nutzte die Zeit, verzichtete so gut es ging, das kalorienreiche und doch einseitige Essen in Kenya machte es mir nicht so schwer zu hungern. Ich aß viel Obst, lief weite Strecken in der staubigen Hitze, arbeitete auf den Feldern, in den Tierställen – immer mit dem Gedanken Kalorien zu verbrennen. Ich hoffte etwas abzunehmen, bemerkte durch die weite Kleidung und die wenigen Spiegel im afrikanischen Busch jedoch nicht, dass ich 10kg verlor. Als ich braungebrannt und zwei Kleidergrößen kleiner nach Hause kam wurde ich von positiven Rückmeldungen überschüttet. Jeder fragte wie ich das geschafft hatte, wie gut ich nun aussehen würde. Jedes weitere Wort zu meiner Figur machte es schlimmer. Ich wusste nicht mehr was ich jetzt essen sollte. Ich war von der Auswahl, der Vielfalt des westlichen Essens restlos überfordert, hatte panische Angst wieder zuzunehmen. Also beschloss ich Diät zu halten – nur an den Wochenenden, wenn ich meinen Freund traf aß ich normal – ich wollte nicht auffallen. Durch das Hungern, den vielen Sport begannen bald die Essanfälle. Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen, immer nur denken, Kalorien zählen, Angst haben Freunde zu treffen und mit ihnen essen gehen zu müssen – Denken, Denken, Denken. Mein ganzes Leben wurde immer mehr zu einem Kampf. Wenn ich aufstand wurde mir schwarz vor Augen, ich fror den ganzen Tag, meine Haare wurden immer dünner, ich konnte sie nur noch im Dutt tragen damit ich sie nicht überall verlor. Einmal ging ich trotz Fieber und Bronchitis joggen – weil ich mich so dick fühlte.
Ich nahm es persönlich, wenn andere Spaß hatten, wurde traurig wenn mein Freund sein Leben lebte und wurde auch sauer, auf ihn, auf mich wenn er keine Zeit hatte. Ich wusste in meiner Freizeit einfach nichts mit mir anzufangen, Freunde treffen war keine Option mehr, ich war ständig gereizt und unfair zu jedem. Ich zog mich zurück, aß, entdeckte den Weg des Kotzens. Ich hoffte darauf einfach zu kollabieren, zu sterben. Die Gedanken, dass alles besser wäre, wenn mein Freund mehr Zeit für mich hätte, wenn ich dünner wäre, manifestierten sich.
Als ich immer mehr abbaute, so tief in den Depressionen steckte dass ich wirklich Angst vor mir selbst bekam, Angst davor, was ich meiner Familie antäte wenn ich nicht mehr leben würde – beschloss ich in eine Klinik zu gehen. Es war die schwerste und trotzdem beste Entscheidung meines Lebens. Die 10 Wochen dort waren ein furchtbarer Kampf. Mir wurde bewusst, dass mein Essverhalten schon vor Afrika nie normal war. Vorher überaß ich mich ständig, hatte geplante Essanfälle, aber es blieb alles drin. Ich aß wenn ich Frust hatte, mich zurückgewiesen oder alleine fühlte. Das Gefühl, restlos allein zu sein, keinen Menschen zu haben, der mich wirklich bedingungslos liebt und auffängt ist auch heute noch ein Gefühl, was immer wieder aufkommt.
In der Klinikzeit kam viel aus meiner Kindheit hoch. Ich hatte eine nach außen hin perfekte Familie. Meine beiden älteren Schwestern sind wahnsinnig erfolgreich, meine Eltern seit 45 Jahren zusammen. Ein Haus, drei Autos, viele Urlaube, brave Kinder, einen Hund. Eine Fassade. Meine älteste Schwester wurde mit 7 Jahren vergewaltigt. An diesem Vorfall zerbrach alles. Meine Mutter hat sich nie verziehen, dass sie aus Überforderung falsch gehandelt hat. Dass sie keine Anzeige erstattete, meine Schwester nicht in eine Therapie gesteckt hat. Meine Schwester hasste meine Eltern und ließ sie das ständig spüren. Nach ihrem Abitur verschwand sie nach Neuseeland. Damals war ich 8 Jahre alt. Ich verstand das alles nicht. Verstand nicht, wieso meine Schwester weg war. Verstand nicht, wieso ich nichts mehr von ihr hörte. Verstand die ganze Heimlichtuerei in der Familie nicht. Als sie wieder kam und auszog hörte ich jahrelang nur an meinem Geburtstag und an Weihnachten von ihr. In dieser Zeit sah ich dabei zu wie meine Mutter innerlich zerbrach. Sie weinte stundenlang. Kleinigkeiten brachten sie zur absoluten Überforderung. Ich übernahm die Mutterrolle, beruhigte meine Mama, versuchte mutig zu sein obwohl ich immer Angst hatte. Angst, dass sie sich etwas an tat. Mein Vater war den ganzen Tag arbeiten und emotional nie für uns und meine Mutter da, meine andere Schwester seit ich 10 war auch ausgezogen. Und immer wusste ich, dass es irgendetwas gab was sie mir verheimlichten. Ich dachte ich sei zu klein, zu dumm das wissen zu dürfen. Mit 13 Jahren erzählte mir meine Mutter erst, was mit meiner Schwester passiert war. Ich sprach nie darüber. Entwickelte eine Angst- und Zwangsstörungen. Hatte depressive Episoden. Ich bemerkte die Angst meiner Mutter um mich, begann auf ihren Wunsch zwei Therapien, brach sie ab, dachte, wenn ich erstmal ausziehe, wird alles gut. Ich bekam am Rande die vielen Klinikaufenthalte, Therapie- und Medikamentenversuche meiner Schwester mit. Wenn die Familie sich traf wurde so getan als wäre alles gut. Darüber geredet wurde nie. Aber das ungute Gefühl, der Druck, dass alles gut laufen müsste wenn wir als Familie zusammen sind war unerträglich.
Nach dem Klinikaufenthalt, Gesprächen mit meiner Familie, Gesprächen mit meinem Freund und Freunden hatte ich wahnsinnige Angst meine neu gewonnene Kraft wieder zu verlieren. In der Klinik hatte ich so gut zu mir gefunden. Neue Ideen und Vorstellungen vom Leben gewonnen. Träume – etwas was ich vorher gar nicht mehr kannte. Freude – was ich vorher ganz verloren hatte. Aber all das war kaum gefestigt. Ich hatte Angst mich in meiner alten Umgebung wieder zu verlieren. Mit meinem Freund stritt ich nur noch. Ich wollte nichts mehr für die Beziehung geben, schließlich hatte ich mich anfangs komplett selbst verloren weil ich alles für ihn gemacht und gegeben habe. Er litt sehr. Versuchte mehr Zeit für mich zu haben, sich mehr zu melden, öfter da zu sein. Trotz allem fühlte ich mich von ihm allein gelassen. Mittlerweile denke ich, ich habe immer darauf gehofft, dass er mir das Gefühl anzukommen, bedingungslos geliebt zu werden und etwas Wert zu sein geben könnte. Dass er es ist, der mich glücklich machen muss. Ich trennte mich 3 Monate nach dem Klinikaufenthalt von ihm. Zog einen Monat später in eine neue Wohnung. Und trotzdem kamen und kommen die Tage an denen ich mich alleine, traurig, wertlos, unnütz, dumm und erbärmlich fühle immer wieder.
Ich habe zwar viel gelernt in der Klinik, auch in meiner nun ambulanten Therapie. Es gibt Wochen, in denen ich normal essen kann, selten auf die Waage gehe, keine Kalorien zähle und mir mit Genuss ein Stück Sahnetorte mit Milchkaffee gönne ohne in der Woche auch nur einmal zum Sport zu gehen. Es geht. Und das Wissen, dass diese Phasen existieren, ermutigen mich an schlechten Tagen. Ich verurteile mich nach Essanfällen nicht mehr, wie ich es anfangs mal getan habe. Sie zeigen mir, dass ich gerade ziemlichen inneren Stress habe, zu wenig Schlaf bekomme, unausgeglichen bin. Trotzdem fällt es mir schwer mir einzugestehen, dass ich immer noch nicht gesund bin. Zwischendurch macht es mich wahnsinnig wütend. Ich versaue mir viele Tage durch die Essstörung und die Depression. Tage an denen ich nur zur Arbeit gehe, ansonsten esse und kotze. Aber immerhin sind es nur Tage. Immerhin habe ich wieder Ziele. Immerhin gibt es wieder Gefühle wie Glück und Vorfreude. Wahrscheinlich ist es noch ein unendlich langer Weg. Ein Weg, den ich nur alleine gehen kann. Ich habe Angst davor, dass ich es vielleicht nie ganz aus der Essstörung schaffen werde. Dass die depressiven Tage mich mein restliches Leben immer wieder einknicken lassen. Ich habe Angst dass ich mir in einer depressiven Episode wirklich einmal etwas antue. Ich habe Angst dass ich zu spät gemerkt habe, dass ich Benny wirklich viel bedeutet habe und ich mit ihm eine Zukunft hätte haben können. Ich habe Angst, nie in einer Beziehung glücklich werden zu können – Angst mein ganzes Leben auf der Suche zu sein. Aber ich möchte diese Angst besiegen. Und ich möchte weiterkämpfen. Ich möchte leben.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone