Die vierunddreißigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
Als mein Bruder geboren wurde, vergaß mein Vater, dass ich existierte. Ich hatte Angst vor ihm, denn er disziplinierte gerne und ich machte oft etwas falsch. Dinge, die Kinder halt so tun. Zu der Zeit verließ ich mich auf meine Mutter. Meine Eltern ließen sich scheiden als ich 9 Jahre alt war. Auch danach war mein Vater nicht wirklich da. Meine Mutter verließ sich auf uns, besonders auf mich.
Ich wurde wegen meiner angeblich dicken Finger von meiner Mutter ausgelacht. Die nannte sie “Wurstfinger.” Wie die meines Vaters. Noch heute finde ich meine Finger zu dick. Es wurde mir auch gesagt, dass ich nicht soviel essen sollte, weil ich sonst dick werde, wie mein Vater und seine Familie. Als Kind saß ich bei meiner Oma auf dem Klo und machte mir Sorgen ob ich zu dick bin.
Wenn ich “mein Ding” machen wollte, war meine Mutter gekränkt, weil ich die Zeit nicht mit ihr verbringen wollte, sondern mit meinen Freunden. Als Teenager fühlte ich mich hässlicher als andere Mädchen und verliebte mich in Jungs, die mich nicht mochten. Die, die mich mochten, nahm ich nicht mal richtig wahr und sie bedeuteten mir nichts.
Mit 17 Jahren war ich depressiv und fühlte mich ungeliebt. Ich fing an unter Ängsten zu leiden und blieb viel zu Hause und nahm zu dieser Zeit viel ab. Ich hatte nach dieser Zeit meinen ersten richtigen Freund. Plötzlich machten mir die Jungs, die ich mochte, Komplimente. Ich bekam Angst, wieder dicker zu werden und dass mich dann keiner mehr mag. Ich aß anders, aus Angst sonst zuzunehmen.
Einen Tag war ich in der Arbeit und wir bekamen Pralinen. Ich aß die halbe Schachtel und bekam Panik dadurch zuzunehmen. Da hab ich mich das erste Mal übergeben. Die nächsten Jahre hab ich gelernt, wie man sich am besten übergibt und was man dafür am besten isst. Zwischendurch hab ich auch zeitweise gar nicht gegessen. Nach jedem Mal wenn ich mich übergeben hatte, fühlte ich mich leichter und befreiter. Gleichzeitig wurde ich auch körperlich krank, mein Hals tat weh und mein Magen.
Meine “beste Freundin” war nicht wirklich eine Freundin. Sie machte mein Aussehen nieder und nahm mir alles Selbstbewusstsein, dass ich vielleicht noch hatte. Sie sagte mir, dass mich niemand mag. Wir sind dann umgezogen und das war schwer für mich, da ich es nicht wirklich wollte. Meine Bulimie wurde sehr schlimm. Es passierte jeden Tag und ich nahm drastisch ab. Ich litt unter Ängsten. Ich ging dann immer wieder durch Phasen wo ich richtig unglücklich war und drastisch abnahm.
Irgendwann fing ich an, mein eigenes Leben zu leben und mich von Dingen, die mir nicht gut taten frei zu machen. Jetzt übergebe ich mich sehr selten, manchmal monatelang nicht, und fühle mich danach so schlecht, dass ich es nicht mehr machen möchte. Es gibt mir aber auch dann immer noch ein befreiendes Gefühl. Ich habe mit meinem Selbstbild immer noch Probleme, und denke immer noch, dass mich Leute nicht mögen. Ich bin oft überrascht wenn mir jemand etwas Liebes sagt. Ich liebe mich selbst nicht und wundere mich wenn es andere tun.
Meine Beziehungen leiden sehr darunter und ich habe bis heute noch keine wirklich liebevolle, gute Beziehung gehabt. Seit Jahren bin ich immer wieder in Behandlung und hoffe, dass es mir bald besser geht. Zur Zeit mache ich eine Gruppentherapie. Mir wurde von guten Freunden schon gesagt, dass sie Fortschritte sehen. Die sind glaub ich auch wirklich da.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone