Die sechzehnte Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
Ich werde demnächst 27 Jahre alt:
Beginn Magersucht- Kontrolle, Leistung, Anerkennung
Ich wuchs auf einem Bauernhof zusammen mit sieben Geschwistern auf. Als zweitälteste übernahm ich sehr früh die Mutterrolle. Es war immer viel los, an Arbeit in Haus und Hof mangelte es nie. Meine Mutter kam oft an ihre Grenzen, indem sie herumschrie oder heulend am Tisch saß. Niemand wusste dann genau, was sie bedrückte. Dies war für mich sehr unangenehm und führte dazu, dass ich ihr noch mehr Arbeit abnahm und mich verantwortlich fühlte, dass meine Geschwister auch bei den anfallenden Arbeiten mithalfen. Wenn sie streikten, habe ich meine Bedürfnisse hinten angestellt und es dann eben selbst erledigt, nur damit meine Mutter wieder zufrieden war. Ich bekam dadurch von ihr, wie auch von meinem Vater, Anerkennung für meine Leistung.
Ich kann mich noch gut an die Anfänge der Magersucht erinnern. Ich war 13 Jahre alt, die Pubertät begann und ein Schulwechsel fand statt. Eigentlich nicht weiter schlimm, aber ich konnte während der Schulpause nicht mehr Fussball spielen, was ich zuvor täglich machte. Plötzlich sollte ich mich mit Mädchenthemen und belanglosem Geschwätz beschäftigen, womit ich nichts anfangen konnte. Ich war kräftig, kämpfte mit meinem Bruder, spielte wie gesagt Fussball und wollte immer ein Junge sein. Einmal fragte ich meine Mutter, ob es normal sei, dass man zunimmt in der Pubertät. Daraufhin bekam ich eine knappe Antwort mit „Ja, das ist einfach so, es gehört dazu, dass sich der Körper verändert.“ Für mich war klar, dass ich dies nicht einfach so hinnehme, ich begann mein Essen einzuschränken und freute mich über jedes Gramm, dass ich abnahm.
Meine Mutter bemerkte jedoch schnell, dass etwas nicht mehr stimmte mit mir, weil ich sehr auffällige, blaue Hände bekam und sehr still wurde. So ging ich mit ihr zum Hausarzt. Oft höre ich, dass man zu lange wartet, bis Hilfe von Außen aufgesucht wird und deshalb eine Essstörung über Jahre andauern kann. Doch ersteres war bei mir definitiv nicht der Fall. Ich wurde an einen Facharzt für psychosomatische Krankheiten verwiesen. Obwohl ich nun eine ärztliche Begleitung hatte und es mehrmals versuchte mit ambulanter Psychotherapie, hatte ich wenig Krankheitseinsicht. Ich wusste nicht, was mein Problem war. Durch meine Wortkargheit war es für mein Umfeld sehr schwierig mich irgendwie zu verstehen und es gab andauernd Streit über mein Essverhalten.
Da ich bereits während der Berufswahl in der Magersucht steckte, war für mich klar, dass ich einen Beruf wähle, wo ich mich körperlich anstrengen muss, damit ich nicht fett werde. Ich entschied mich für Schreinerin. Immer mit dem Hintergedanken im Kopf, durch gute Leistung, Anerkennung von Außen zu bekommen, gab ich stets vollen Einsatz bei allem. Irgendwann, ich war inzwischen 19 Jahre alt, streikte jedoch mein Körper mit qualvollen Rückenschmerzen, so dass ich nicht mehr wusste, ob ich liegen, stehen oder sitzen soll. Es ging nichts mehr! Klinik war die einzige Lösung, die ich hatte.
Übergang Bulimie – Kontrollverlust, Grenzüberschreitung
Durch den ständigen Druck, endlich zuzunehmen und die Frage, wie es nach Austritt weitergehen soll, fing ich an heimlich zu essen. Einmal waren es dann drei Joghurts zu viel und ich erbrach zum ersten Mal. Ein Schock! Ich ahnte, dass ich nun ein Problem mehr haben werde. Meine Vermutung wurde rasch Realität.
Ich ass, kotzte und nahm trotzdem in kürzester Zeit enorm schnell zu. Zu dieser Zeit wohnte ich in einer betreuten Wohngruppe und setzte meine Ausbildung in einer von der IV geschützten Werkstatt fort. Nun durfte mich der Staat finanzieren, was mein Selbstwertgefühl natürlich nicht gerade förderte. Ich fühlte mich total am falschen Platz. Nächtliche Essbrechanfälle und Depressionen kamen hinzu, sodass ich oft zu spät erschien bei der Arbeit. Ein weiterer Klinikaufenthalt wurde nötig. Gewisse Dinge waren dort für mich als Bulimikerin ziemlich unprofessionell organisiert. Wir mussten selbst kochen und die oft vielen Essensreste warf man jeweils in den Abfall, was mich dazu brachte, direkt aus dem Mülleimer zu fressen!
Weiter gab es für mich ein unschönes, jedoch wichtiges Ereignis, das eine wesentliche Ursache für meine Essstörung ans Tageslicht brachte. Ich möchte es nicht genau ausführen, aber ich kann sagen, dass ich dadurch erstmals thematisieren konnte, wie ich meine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht habe. Zu früh! Es war nicht so, dass ich zuvor nie gefragt wurde, ob ich in dieser Hinsicht schlechte Erfahrungen machte, nein, für mich war es einfach eine Art Geheimnis, dass niemand zu wissen brauchte.
Die Lehrabschlussprüfung nahte. Der Stress und die Unsicherheit, ob ich sie bestehe, nahmen zu. Die Fressanfälle und die Depressionen ebenfalls. Auf der Suche nach Hilfe bekam ich die Möglichkeit, eine Schamanin kennen zu lernen, welche mir durch ihre Sicht auf die Dinge, auf das Leben, wieder Boden unter die Füsse gab. Die ayurvedischen Massagen trugen ihren wertvollen Anteil dazu bei. Doch die Bulimie ließ mich auch da nicht los.
Nach insgesamt sechs Jahren Lehrzeit mit Unterbrechungen, schaffte ich den Abschluss, wenn auch nicht mit einer Glanznote. Nun wollte ich auf eigenen Beinen stehen und fand eine Teilzeitanstellung in einer Waldspielgruppe, was mir sehr gut gefiel. Um ausreichend zu verdienen suchte ich noch einen Job als Schreinerin. Dazu hatte ich eine eigene Wohnung, einige Kilometer entfernt von meinen Eltern. Ich konnte machen was ich wollte. Nur wusste und weiß ich bis heute oft nicht was ich will.
Allgemein begann da eine wilde Zeit. Rauchen, Alkohol, Drogenpartys, Sex. Keine Grenzen, keine Kontrolle mehr… Dass ich heute nicht schon x-fache Mutter bin, kann ich wohl nur einer höheren Macht verdanken!
Einen Wunsch gab es dann doch, den ich mir erfüllte. Ich kündigte meine Stelle und verreiste für drei Monate ins Ausland. Da gab es dann erstmals eine fressfreie Zeit von sechs Wochen. Jedoch auch nur, weil ich im Camper unterwegs war und keine Möglichkeit fand zum kotzen. Erstaunlicherweise nahm ich nicht zu, doch ich litt unter übelsten Verstopfungen. Das ist sowieso seit Beginn ein Dauerthema.
Ich kam zurück und wusste wiedermal nicht wie es weitergehen soll. Eine neue Stelle wollte ich eigentlich schon suchen, doch die Bulimie war nach wie vor da und bestimmte meinen Alltag. Die Vorstellung ‚Arbeiten-Fressen-Kotzen-Schlafen-zu spät zur Arbeit-schlechtes Gewissen-Fressen-Kotzen‘ veranlasste mich, erneut stationäre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Obwohl es meine Entscheidung war, hatte ich sehr Mühe, mich darauf einzulassen. Finanzielle Sorgen begleiteten mich stark und die Frage, die ich kaum mehr hören kann: „Was will ich, was wünsche ich mir, wovon träume ich?“ Wenn ich das wüsste…
Meine Not, Verzweiflung, meine Geldknappheit brachten mich dazu, dass ich anfing Unmengen zu stehlen in den Supermärkten – bis ich, naja ich hatte immer riesen Angst davor, erwischt wurde. Als wäre ich mir nicht schon genügend beschämend vorgekommen, kannte ich die Ladendedektivin auch noch!
Ende? – Kapitulation und Waffenstillstand
Ich habe nun zwei Jahre nicht mehr gearbeitet. Stattdessen machte ich stationäre Therapie in einer Klinik, ausschliesslich für Frauen. Zwischendurch wohnte ich erneut in einer betreuten Wohngruppe, wofür ich mein ganzes Erspartes aufbrauchen musste bis ich vom Sozialamt unterstützt wurde. Ich arbeite jetzt wieder in einem Heim für schwierige Jugendliche, verbunden mit Garten und Landwirtschaft. Ich sehe Sinn in meinem Tun und bin mit der IV in Abklärung, ob ich noch eine Ausbildung machen kann im pädagogischen Bereich.
Mir ist aber auch bewusst, dass die Bulimie nicht einfach verschwindet, wenn ich meinen Kopf mit Lerntheorien fülle. Deshalb bin ich immer wieder sehr am Zweifeln, wo und wie es weitergehen soll, weil ich nach wie vor Kriegszustände in meinen Gedanken führe und fast täglich Essbrechanfälle habe.
Unterstützung und hilfreiche Tipps finde ich seit ca. fünf Jahren hier auf lebenshungrig. Ich gehe regelmässig zu meiner Psychologin, welche mir, wie auch Simone zeigt, dass es ein Leben ohne Bulimie gibt, weil sie ebenfalls selbst davon betroffen war.
Den Moment wertfrei annehmen und dabei in Kontakt mit sich selbst sein. Den Atem fliessen lassen und vertrauen. Was für eine Herausforderung!
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone