Die sechste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

„Du hast so eine tolle Figur!“, wie oft ich diesen Satz gehört habe ? Zu oft!

Was er mir bedeutet? Ekel und Selbsthass.

Ich bin 19 Jahre alt und leide seit etwas mehr als vier Jahren an einer Essstörung. Alles fing mit wenig Appetit an, man will ja für seine erste „große Liebe“ schön aussehen. Schade nur das er mich von vorne bis hinten ausgenutzt und verarscht hat. Dazu kam, dass meine damalige beste Freundin, mir die Schuld an ihren Depressionen und Suizidgedanken gab. Meine pupertäre Welt ist zusammen gebrochen. Meine beste Freundin, die die gleichen Probleme Zuhause hatte mit ihrem kleinerem Bruder, war neidisch auf mich, dass bei mir alles so gut lief.

In dieser Zeit lief jedoch bei mir alles andere als gut. Ich bin ungerne nach Hause gekommen. Wir wohnen in einem kleinen Dorf und auf der Straße hörte man schon meine Mutter mit meinem Bruder wegen den Hausaufgaben streiten. Das ging jeden Tag so. Ich bin immer direkt in mein Zimmer gegangen und habe mich eingeigelt, bis das Essen fertig war. Dann bin ich joggen gegangen, damit ich nicht mit essen musste. Ich wollte der unangenhmen Spannung in unsere Falimie entgehen. Und wenn ich mal mit gegessen habe, gab es jedes mal Streit am Essenstisch und ich bin gegangen. In dieser Zeit war ich stark Untergewichtig und fand mich damals schön.

Natürlich ist es aufgefallen, dass ich viel abgenommen habe und meine besten Freundinnen sprachen mich drauf an. Danch haben wir es zu dritt druchgezogen und haben uns immer weiter gegenseitig in die Esstörung gepusht. Die beiden konnten die Notbremse ziehen. Ich nicht. Ich nahm durch die Pille viel zu und bin in die Bulimie gerutscht. Ich hatte mehrmals am Tag Heißhungerattaken. Im nach hinein wundert es mich, das es meiner Familie nicht aufgefallen ist und ich mein Abitur so gut absolviert habe. Meine Gedanken drehten sich nur noch um dieses Thema – Essen. Jeden morgen setzte ich mir aufs neue das Ziel, dass heute ein bessere Tag wird. Ein Tag ohne Heißhungerattake, ohne Erbrechen. Ein Tag mit einem Apfel, viel Wasser, Kaugummis und Bonbons ohne Ende und natürlich viel Sport!

Jeder Tag in den letzten zwei Jahren verlief gleich. Nach der Schule bekam ich eine Heißhungerattake nach der nächsten und habe alles wieder erbrochen. Danch bin ich immer ins Fitnessstudio gefahren und habe mindetsens drei Stunden Sport gemacht. Mein Kreislauf hat regelmäßig versagt. Das letzte Jahr war ich das halbe Jahr über krank und hatte Unmengen an Fehlstunden. Das war mir natürlich ein Dorn im Auge und ich merkte das irgendetwas nicht mit mir stimmte. Ich machte viele verschiedene Test im Internet und wollte es nicht wahrhaben. Ich, bei der immer alles „perfekt“ ist, die ihr Abitur alleine und ohne Hilfe durchzieht und danach studieren wird. Das passte nicht in meine Welt. Es überforderte mich total. Ich bekam immer stärkere Bauchschmerzen und meine Herpesinfektion wurde ich gar nicht mehr los. Ich nahm allen Mut zusammen und machte einen Termin im Gesundheitsamt aus. Ich wusste nicht wo ich anfangen soll und hatte Angst das unsere Dorfärztin nicht ihre Schweigepflicht einhält. Im Gesundheitsamt wurde mir dann schnell klar das ich wirklich krank bin und da raus will.

Am nächsten Tag nahm ich allen Mut erneut zusammen und erzählte meinen Eltern von meiner Essstörung. Ich war erleichtert, fühlte mich aber gleichzeitig vollkommen entblößt und bereute es immer wieder, dass ich meine Krankheit nun öffentlich gemacht habe. Meine Eltern haben mich großartig unterstützt und meine Freundinnen auch. Ich hatte bald einen ersten Termin in einer Klinik und es sah gut aus, dass ich bald einen Platz bekommen würde. Ich machte mein Abi zuende und fuhr noch mit meinen Freundinnen in den Urlaub. Die vier Wochen nach dem Urlaub waren die längsten Wochen in meinem Leben. Diese Ungewissheit und vorallem diese riesen große Angst vor der Klinik machte mich noch mehr kaputt. Dazu der Druck das ich mein Gewicht halten muss, damit ich aufgenommen werde. Ich trennte mich von meinem Freund, da ich mit körperlicher Nähe gar nicht mehr klar gekommen bin. Außerdem war er mir generell zu nahe. Er bekam zu sehr mit wie es mir wirklich ging und das wollte ich keinem antun. Ich habe mich immer mehr zurück gezogen und meine Heißhungerattaken wurden immer schlimmer.

Dann kam endlich der große Tag. Meine Aufnahme standt direkt bevor, an Mamas Geburtstag. Die Zeit in der Klinik zog nur so an mir vorbei. Ich hatte von heute auf morgen keine Ess-Brech-Anfälle mehr, mein Gewicht hielt sich und mir ging es immer besser. Ich war so optimistisch, dass ich nach sechs Wochen schon meinen Entlass-Termin fest gelegt hatte. Dieser Optimismus wurde schnell gestopp durch den ersten Aufenthalt zu Hause. Ich brach zusammen und fiel in ein tiefes Loch, aus dem ich mehrer Wochen nicht mehr herraus kam.Den Entlass-Termin habe ich erstmal aufgehoben und war letzendlich knapp drei Monate im stationärem Aufenthalt. Sobald ich entlassen wurde, zog ich von Zuhause aus. Ich brauchte räumlichen Abstand zu meinem alten Zuhause, in dem ich mich nicht mehr wohl fühlte und auch von meiner Familie, die mich auf einmal mit Aufmerksamkeit erdrückte.

Ich brach den Kontakt mit meiner besten Freundin ab, die mich immer wieder tiefer rein zog, da sie mich für ihre psychischen Probleme verantwortlich machte. Ich habe wieder Kontakt mit meinem Ex-Freund aufgenommen und bin nun mit ihm in einer noch nie so glücklichen Beziehung. Ich habe zwei beste Freunde und komme mit meinem kleineren Bruder super klar. Ich habe eine Therapeutin mit der ich gut klar komme und mit meinen Eltern ist es nun auch viel entspannter. Eigentlich könnte man meinen ich habe gelernt mit meiner Krankheit umzugehn und habe einen guten Weg eingeschlagen.

An manchen Tagen ist das auch so. Dann geht es mir richtig gut, ich denke weder über mein Gewicht nach noch über die Menge an Essen nach. Aber an den meisten Tagen ist diese Stimme in meinem Kopf wieder da, die ich so mühevolll versuche zu verbannen. Diese Stimme, die mit sagt wie viel und was ich essen soll und das ich zu dick geworden bin. Diese Stimme die mir alle Kraft raubt und meine Identiät ist. Die Stimme die mir den „einfacheren“ Weg zeigen will. Den Weg, der die ganzen Jahre gut geklappt hat und mein ständiger Begleiter war. Der Weg der mir alles raubt. Meine Lebensfreunde, meine Freunde, meinen Freund, meine Familie, einfach alles was mir wichtig ist.

An manchen Tage geht mir die Kraft aus, da gewinnt die Essstörungsstimme und ich werde rückfällig. Das schlechte Gewissen rede ich mir mit der Ausrede aus, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Der Abstand wird jedoch wieder immer kleiner zwischen den Heißhungerattaken. Ich verschließe mich wieder mehr vor meinen Freunden. Aber mit meiner Therapeutin spreche ich nicht darüber. Ich schäme mich zu sehr. Ich will mir nicht eingestehen, das ich immer noch krank bin, da ich mir dadurch eingestehe, das ich noch viel an mir zu arbeiten habe und viel zu lernen. Und vorallem das ich versagt habe.

Aber ich kämpfe weiter, weil ich gemerkt habe das ich es schaffen kann, weil ich nicht mehr länger so leben will. Ich will ein Leben führen, in dem das Essen oder meine Figur nicht mehr länger die Hauptrolle spielt. Ich will frei sein.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone