Die elfte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Eine endlose Geschichte?

Meine Essstörung hat angefangen als ich Mitte 20 war und mich entschieden habe, nie wieder pummelig sein zu wollen.

Ich war nie dick, hatte aber seit der Pubertät immer ein paar Kilo zu viel auf den Hüften (ganz objektiv betrachtet und dies auch immer von meiner Familie zu hören bekommen; ich wog ca. 68 kg bei einer Größe von 1,72 m). Eine Diät im engeren Sinne habe ich nicht gemacht, sondern meine Ernährung auf gesund, fettarm und vegetarisch umgestellt. Gleichzeitig habe ich angefangen Sport zu treiben. Anfangs hat alles ganz wunderbar funktioniert, d.h. ich habe auf 60 kg abgenommen und mich in meiner Haut wohl gefühlt.

Dann ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Sowohl Ernährung als auch Sport und ganz besonders meine gute Figur wurden mehr und mehr zur Obsession. Essanfälle und Sport haben mich zusammen mit depressiven Phasen über Jahre hinweg begleitet. Der allmorgendliche Blick auf die Waage hat darüber entschieden, ob es ein guter oder schlechter Tag wird. Um schlank zu bleiben habe ich verschiedene Methoden ausprobiert (Einläufe, Abführmittel), aber nie erbrochen. Dies war vielleicht einer der Gründe, weshalb ich mir nie eingestanden habe, an einer Essstörung zu leiden.

Ich konnte bzw. wollte mit niemandem darüber sprechen, auch wenn sich mein damaliger Freund angeboten hat (natürlich hat er gemerkt, dass ich regelmässig seinen Vorrat an Hefezopf, Butter und Nutella geplündert habe). Ich war sogar wegen Magenschmerzen bei verschiedenen Ärzten, kam aber nie auf die Idee, mir wegen meiner Fressattacken – die die Ursache der Magenschmerzen waren – Hilfe zu holen (die Ärzte haben aber auch nichts bemerkt). Nach einigen Jahren habe ich mir wegen meiner Depressionen Medikamente verschreiben lassen, gegen eine Psychotherapie habe ich mich allerdings gewehrt.

Durch die Beendigung meiner langjährigen Beziehung und meines Studiums sowie dem Beginn einer neuen Beziehung kam mir mein Leben auf einmal so einfach vor, die Medikamente habe ich nach und nach abgesetzt, auch die Essanfälle waren verschwunden. Mein Gewicht hatte sich auf etwas mehr als 60 kg eingependelt. Ich war so stolz auf mich! Dieser Zustand blieb ca. drei Jahre erhalten, auch in der ersten Zeit der Umstellung von einer vegetarischen auf eine vegane Ernährung. Durch die vegane Ernährung konnte ich ja auch mein Triggerfood (Süßigkeiten, Hefezopf, Nutella usw.) auch nicht mehr essen. Außerdem konnte ich durch die vegane Ernährung mein Gewicht noch weiter reduzieren (auf unter 60 kg).

Vor vier Jahren kamen die Fressanfälle (in veganer Form, es gibt ja auch vegane Süßigkeiten) unerwartet plötzlich wieder über mich. Seitdem habe ich immer wieder Phasen, in denen ich die Anfälle mühsam durch restriktives Essen und Food-Tracking in Schach halten kann und Phasen, in denen gar nichts mehr kontrollierbar ist – und das obwohl ich meinen Traummann geheiratet habe und einen tollen Job mit netten Kollegen habe. Einiges habe ich aber abgestellt: ich wiege mich nur noch selten und habe mich nach dem Dahinscheiden meiner letzten Digitalwaage bewusst für eine manuelle ungenaue Waage entschieden. Auch Abführmittel nehme ich bewusst nicht mehr, für exzessiven Sport habe ich aus beruflichen Gründen auch keine Zeit mehr. Daher habe ich immer mal wieder eine neue Ernährung ausprobiert (vegane Rohkost, Starch Solution (fettarme vegane Ernährung)). Die Idee dahinter: mit der perfekten Ernährung habe ich keine Fressanfälle, weil mein Körper alles bekommt, was er braucht! Aber, immer derselbe Effekt wie bei meiner ersten „Diät“: eine Weile funktioniert alles wunderbar, so dass ich schon meine, einen Weg gefunden zu haben, um dauerhaft schlank zu sein und obendrein gesund zu essen.

Dann aber falle ich wieder in das alt bekannte Loch aus Fressanfällen und Diät-Halten. Es macht mich traurig, dass es mir objektiv betrachtet doch so gut geht und ich mich dennoch nicht aus den Klauen der Esstörung befreien kann. Auch wenn ich bislang keine Diagnose erhalten habe (ich war ja nie in Behandlung deswegen), so bin ich überzeugt, dass ich seit 15 Jahren daran leide.

Jetzt bin ich fast 40 und kann mir nicht vorstellen, diese Bürde den Rest meines Lebens mit mir herumzutragen…

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone