Die achtzehnte Geschichte (d)einer Essstörung
In einigen Tagen werde ich 25 und fühle mich im Moment bisschen verloren.
In solchen Situationen denke ich mir immer: Ja, morgen wird es anders, morgen machst du wieder Sport, du stellst deine Ernährung um, du wirst 100% geben, etc. Die üblichen Versprechen, die ich schnell wieder brechen bzw. niemals einlösen werde. Meine Essstörung begleitet mich seit 2005, wir haben im Februar dieses Jahres unser 10jähriges gefeiert. Ein Jubiläum. Seit ich denken kann, assoziiere ich Dünnsein mit Schönheit, Gesundheit und Glücklichsein. Wie höchstwahrscheinlich der Rest unser Gesellschaft.
Trotzdem war ich bis zu meinem 14 Lebensjahr nicht essgestört. Ich ernährte mich zwar hauptsächlich von Nutella und Nudeln, war aber körperlich wie mental völlig gesund. Meine Kinderärztin war trotzdem der Ansicht, dass ich abnehmen sollte, da die Gefahr bestehen könnte, dass ich noch dicker werden könnte und sich somit gesundheitliche Probleme entwickeln könnte. Der böse Konjunktiv. Ich wurde dann mit 12 Jahren (das war so um 2002) auf Diät gesetzt. Einen Vorteil zog ich aus der Diät, ich entdeckte meine Liebe zu Salat und anderem Grünzeug… Nachteil war, dass ich mich im meinem Glauben, dass dünn gleich gesund, ergo gleich schön sein bedeutete, bestätigt fühlte.
Fast forward. Als ich dann im Februar 2004 zum Schularzt musste und mit Entsetzen feststellte, dass ich bei einer Grösse von 160cm 64Kilo wog, war das Fass über! Jetzt machte ich ernst. Ich wollte so schön und dürr sein wie meine Vorbilder. Am Anfang verzichtete ich auf das ein oder andere Lebensmittel oder aß anstatt 3 Scheiben Käse, nur noch eine. Hört sich noch recht harmlos und vernünftig an… aber ich war davon besessen die magischen 50kg zu erreichen. Dann fing ich an fast nichts mehr zu essen, geschweige irgendetwas zu trinken. Exzessiver Sport durfte auch nicht fehlen. In den Sommerferien schlief ich dann viel. Klar, wenn man schläft, isst man auch weniger. Ich fror und meine Periode blieb für ein ganzes Jahr aus, aber ich war kurz vor meinem Ziel.
Ich erreichte die 52kg-Marke, aber war noch lange nicht so dürr wie die werte Nicole Richie. Zusätzlich zu dieser Erkenntniss, hagelte es komischerweise kaum Komplimente. Hing auch vielleicht daran, dass ich weite Kleider und tausend Schals anzog, die meinen deformierten Körper und mein dickes Gesicht verstecken sollten, und somit checkte niemand wirklich, dass ich abgenommen hatte. Perfektion musste in allen Hinsichten erreicht werden, ich gab mich mit so einem normalen Gewicht nicht zufrieden (daher auch das Vermummen), man durfte mich doch erst in aller Vollkommenheit zu sehen kriegen und so malte ich mir einen Plan aus, wie ich mich auf 44kg herunter hungern konnte. Glorreiche Tage.
Aber im Februar 2006 fing ich wieder an zu essen, pardon, zu fressen. Der Auslöser war ein Bericht auf RTL über zwei magersüchtige Zwillinge, die gemeinsam 56kg auf die Waage brachten. So huschte ich schnell in die Küche und aß was Schokoladiges, ich wollte doch nicht wie die beiden aussehen. Ich wollte doch wie Mary-Kate Olsen aussehen. Scary skinny, but chic. Ab diesem Zeitpunkt verschlang ich fast 5 Jahre lang 1 bis 2 Tafeln Schokolade am Tag (und was es halt noch an Süssem gab). Aber in aller Heimlichkeit. Ich gab niemanden die Befriedung mich in dieser Verfassung zu sehen. Was wäre das für eine Schmach gewesen?! Es war einfach nur erbärmlich. Es gab Vorfälle, in denen ich im Mülleimer füllte, um noch die Überreste von Schokolade retten zu können, welche Schulkameraden von mir weggeworfen hatten… Ich aß bis mir übel war. Ziel war es u.a. sich vor bestimmten Lebensmitteln zu ekeln. Wenn man sich ekelt, fasst man dieses Lebensmittel auch nie wieder an. Die Konsequenz war konstante Gewichtszunahme und Kreislaufprobleme. In meinen dicksten Tagen wog ich unglaubliche 90kg bei 167cm. Diese versteckte ich hinter zu grossen T-shirts, Jeans’ und diesen verdammten Schals.
Die Jahre zwischen 2006 bis 2011 kommen mir mittlerweile sehr verschwommen vor. Wie in Trance bin ich damals durchs Leben gewandelt. Zusätzlich zu meiner Essstörung, erkrankte in diesem Zeitrahmen ein Elternteil, der geliebte Kater verstarb, mein Vater stand kurz vor der Arbeitslosigkeit, usw. Und dann kam noch die Pubertät und mein vehementer Kampf gegen das Erwachsenwerden. Rückblickend war das einfach zu viel für eine Heranwachsende. Diese Ereignisse haben mich teilweise so stark erschüttert, dass ich bis heute noch Alpträume davon krieg. Ich hatte jedoch mit 17 Jahren eine kleine Erholphase. Trotzdem holte mich das Leben ganz schnell wieder ein, und bis zu meinem 21ten Lebensjahr verschlang ich das Essen nur so, verkroch mich immer mehr, verlor an Selbstwertgefühl, hatte null Selbstbewusstsein und war depressiv. Ich hörte sogar mit Karate auf, weil mir mein Kimono allmählich nicht mehr passte… es war mir so peinlich. Natürlich versuchte ich zwischenzeitlich das Gewicht wieder zu reduzieren, ich bevorzugte von Zeit zu Zeit Abführmittel, aber alles vergeblich. Das Leben erschien mir immer mehr trostlos und hoffnungslos.
Als ich dann das Teenagerdasein überlebt bzw. überstanden hatte, ging ich zur Uni. Plötzlich musste ich mich u.a. an ein neues Umfeld gewöhnen. Der Horror. Schule war mir immer sehr wichtig. Ich bin in einem recht ärmlichen und bildungsfernen (was für ein herablassendes Wörtchen) Haushalt aufgewachsen… wenn man es zumindest mit der Gegend vergleicht, in welcher ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Eine Gegend, die ein recht elitäres Verhalten und Denken befürwortete und förderte. Da erscheint es kaum verwunderlich, dass essgestörtes Verhalten in meinem damaligen Bekanntenkreis nicht so ungewöhnlich war, man nannte das Kind nur nie beim Namen. Wie auch immer, meine Eltern wollten immer, dass ich eine gute Bildung ablege. Seither war ich darauf fokussiert eine gute Ausbildung zu erhalten. Ich musste mir schultechnisch alles selbst erkämpfen. Und darauf bin ich auch sehr stolz. In meiner gesamten Schulkarriere, pre-Uni, hat mir fast niemand geholfen. Ich war zu 95% immer auf mich selbst gestellt und es war ok. Als dann aber meine Uni unter meiner Essstörung und den andern Begleiterscheinungen litt, zog ich 2011 endgültig die Notbremse! Ich ging zu meiner Hausärztin und erzählte ihr alles. Sie war die erste Person, die mir wirklich zuhörte und die auch Verständnis für meine Situation aufbrachte. Sie bat mir Hilfe an. Diese Frau hat mir höchstwahrscheinlich das Leben gerettet.
Seither hab ich mich weiterentwickelt. Ich hatte Phasen, in denen es mir nicht so gut ging, wie im Moment, aber das ist nichts im Vergleich zu denen Jahren zuvor. Hier muss ich hinzufügen, dass ich in solchen Situation, dann auch lebenshungrig besuche. Die Seite hat mir sehr im Genesungsprozess geholfen. An dieser Stelle, ein grosses Dankeschön :)) Ich durfte auch die Sonnenseite des Lebens entdecken: Liebe erfahren, mich künstlerisch entfalten, sozial aktiver werden und ich hab mich mit meiner Essstörung angefreundet. Okay, das ist leicht übertrieben. Sie war sonst ein ständiger Begleiter, ein Dämon, ein Parasit, etwas, was ich sonst als Strafe empfunden habe. Mittlerweile meldet sie sich nur noch dann, wenn ich Stress (bin momentan in der Endphase meines Studiums) habe und anstatt sie wieder los werden zu wollen, lad ich sie auf einen Tee ein. Jetzt wird es zu metaphorisch. Ich gehe Kompromisse ein, daher werde ich morgen keinen Sport treiben, aber vielleicht im Verlauf der Woche, wenn nicht diese Woche, dann die nächste. Und apropos Ernährung… ich steh, oh quelle surprise, noch immer auf Süsses. Mittlerweile mache ich mir fast jeden Mittag heiße Schokolade. Hier hab ich jedoch mit meiner Essstörung einen Kompromiss geschlossen: Zur Milch gebe ich etwas Wasser hinzu… es erscheint sehr unorthodox, aber es beugt Fressattacken vor und ich kann meine Tasse heiße Schokolade ohne schlechtes Gewissen geniessen. Ich lebe sehr gut mit dieser Einstellung. Ich kann auch mittlerweile in Gesellschaft genüsslich mampfen. Daher kommen Fressattacken nicht mehr so oft vor (hat sich von fast täglich auf wenige Male pro Jahr reduziert, und wird Jahr zu Jahr auch weniger). Ich fühle mich viel wohler in meiner Haut, obwohl ich noch leichtes Übergewicht mit mir rumtrage, aber solang ich mir hübsche Kleidung kaufen kann, ist alles in Ordnung ;) Ironischerweise krieg ich mehr Komplimente mit meinem kleinen, pummeligen Körper als damals mit meinem durchtrainierten, schlanken Körper. Und mittlerweile gebe ich, sorry für den Kraftausdruck, einen Scheiss auf die Bestätigung von anderen. Ich habe mich jahrelang krepiert andern zu gefallen. Darauf, gelinde gesagt, habe ich keinen Bock mehr. Dem einzigen Menschen, dem ich gefallen muss, bin ich selbst. Ich blicke optimistisch in die Zukunft und hoffe, dass ich irgendwann frei von meiner Essstörung bin, aber solange sie noch manchmal vorbeischaut, biete ich ihr freundlich Tee und ein Stück Schokolade an.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone