Die achte Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:
Ich bin 44 Jahre alt und leide seit vielen Jahren unter einer Essstörung.
Wegen einer Depression bin ich zur Therapie gegangen und dort ist die Essstörung auch Thema. Ich leider unter der Binge Eating Disorder.
Viele Jahre hatte ich schon den Verdacht, dass es krankhaft ist, sich immer wieder Essanfällen hinzugeben. Die Diagnose Binge Eating hatte ich vor drei Jahren zum ersten Mal gehört und mich in der Beschreibung wiedergefunden. Es ist einfach nicht so offensichtlich wie Bulimie oder Anorexie und auch allgemein weniger bekannt. Da ich zwar übergewichtig bin, aber immer noch so in Kleidung 44 passe, wurde ich nicht wirklich ernst genommen in Gesprächen und auch ein Arzt hat meine Diagnose belächelt. Meine Therapeutin ist die erste, die mich richtig ernst nimmt und mir hilft den richtigen Weg zu finden.
Angefangen hat alles im Grundschulalter. Meine Eltern haben gesagt, dass ich weniger essen solle weil sie der Meinung waren, dass ich zu viel wiegen würde. Wie genau der Wortlaut war, kann ich gar nicht mehr sagen. Besonders mein Bruder im pubertären Alter hat einiges dazu zu sagen gehabt… Außerdem war ich kein sportliches Naturtalent, sondern einfach ein bisschen träger und ungeschickter als manch andere Kinder. Der Schulsport wurde schnell zum Hass-Fach.
Rückblickend bin ich mir sicher, dass alles so ungefähr in der Zeit meiner Kommunion mit 8/9 Jahren begann. Aber die Bilder aus der Zeit sagen etwas anderes! Ich war kein dünnes super-schlankes Kind, aber normal!!! Ich begann mich dick zu fühlen, und ich fühlte mich oft alleine. Meine Freunde wohnten alle weiter weg und oft konnte ich mich nicht verabreden. Zuhause war ich meist auf mich gestellt und meine Eltern haben mir wenig Nähe und Liebe geben können. Auch sie sind Menschen mit einer eigenen Geschichte…
Auch meine Mutter war immer im Kampf mit den Pfunden. Hier und da wurde auch mal eine Diät gemacht. Sie wollte nicht, dass mir das gleiche passiert, denke ich. Iß weniger, nicht so schnell, nicht so viel Süßes… das waren ihre Botschaften. Süßigkeiten hatten wir selten auf Vorrat, weil auch sie sie gnadenlos vernichtete.
Ich fing an zu glauben, dass ich dick sei. Meine Beine waren dick, ich fühlte mich unförmig und ich nahm dann auch zu! Selbsterfüllende Prophezeiung nennt man das wohl. Süßigkeiten gab es selten, auf Besuch aß ich sehr viel und irgendwann kaufte ich selber ein. Eine beispielhafte Situation fällt mir ein: Ich war mit dem Rad unterwegs in den Laden und kaufte zwei Tafeln Schokolade. Eine weiß und eine dunkel. Auf dem Rückweg saß ich auf einer Bank und aß sie auf. Das war irgendwann zwischen zehn und zwölf Jahren. So begannen die ersten heimlichen Fressanfälle. Ich aß Zuhause Süßigkeiten auf oder kaufte mir heimlich welche. Oft klaute ich meinen Eltern dafür das Geld aus der Geldbörse.
Warum? Ich glaube, ich fühlte mich alleine und mir fehlte der täglicher Austausch mit jemanden der mich mochte und/oder liebte. Bei meinen Eltern ging es nicht sehr herzlich zu. Auch nicht unfreundlich, eher alles geregelt und irgendwie emotionslos.Wirklich geliebt fühle ich mich im nach hinein betrachtet nicht. An körperliche Zuwendungen, Kuscheln und Umarmungen kann ich mich nicht erinnern.
Schokolade war ein begrenztes Gut und damit auch sehr begehrenswert. Der Geschmack allein machte für kurze Zeit glücklich. Es entwickelte sich eine wirkliche Sucht nach Süßem. Immer mehr und mehr…
So wurde ich ein Teenager. Ich hatte immer ein paar Kilos mehr als die Klassenkameraden, aber wirklich besorgniserregend war mein Gewicht nicht. Wenn ich das jetzt beurteile, war ich bestimmt kräftiger, aber nicht dick, vielleicht von der Figur noch unvorteilhaft verteilt, die weiblichen Formen kamen erst später. Aber ich fühlte mich dick und mir war klar, dass mich nie ein Junge toll finden würde. Wenn dann nur ein unbeliebter und wenig attraktiver.
Zugleich begriff ich auch, dass ich manchmal mit Witzen andere Leute zum Lachen bringen konnte. Damit versuchte ich mich dann in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn ich schon nicht gut aussah, dann war ich witzig und freute mich, wenn ein Witz aufging. Ich war auf der Suche nach Anerkennung bei meinen Mitschülern. Ich war nicht unbeliebt und wurde auch nicht übermäßig gehänselt. Ich aber fühlte mich immer nicht gut genug. Ich meinte zum Beispiel, dass mich im Bus alle älteren Schüler anglotzen und mich fett finden würden. Das war manchmal ein Spießrutenlauf – den die älteren Schüler ärgerten tatsächlich auch mich, aber nicht weil ich so doof war, sondern weil die jüngeren einfach geärgert wurden. Fast alle!
In der Schule war ich Mittelmaß – ich hatte nicht wirklich Bock. Aus der recht guten Grundschülerin war eine eher mittelmäßige bis schlechte Schülerin geworden. Leistung wurde belohnt mit Aufmerksamkeit – aber genau das boykottierte ich in der Zeit. Meine Eltern waren stolz, daß ich auf dem Gymnasium war – mein Bruder fand es ätzend. Ich bin oft aufgefallen, weil ich Mist gebaut habe, nicht aufgepaßt habe oder einfach störte.
Am Ende der klassischen Schullaufbahn begriff ich wie “geil ” Erfolg und daraus resultierende Anerkennung war und ich wurde richtig, richtig gut. Das Voraussetzungen war da – ich musste nur etwas tun. Mit Beginn der beruflichen Laufbahn wurde ich dann sehr erfolgreich. Ich wurde bewundert, gefördert und bekam Anerkennung in der Familie und bei Arbeitskollegen, Chefs und später auch in monetärer Form: Ich machte Karriere!
Ja, und Karriere mache ich auch mit unendlichen Diäten. Wenig bis fast nichts Essen, Essen bis zum Umkippen, Akupunktur, FdH, Kalorien zählen, Kohlsuppe, Lowfett, Shakes und und und…… Ab 16 nahm ich immer wieder ab und zu und ab und wieder zu. Das Gewicht schaukelte sich von knapp über 80 Kilo auf knapp über 90 Kilo und nach zwei Schwangerschaften dann auch noch auf knapp unter 100 Kilo.
Mit Ende 30 war mir durchaus klar, dass ich nicht so weiter machen konnte mit den Diäten. Ich nahm gesund und langsam mit WW ab und machte viel Sport. Das Gewicht konnte ich gut halten, so ungefähr zwei Jahre war es echt top. Ich war gesund, meine Gelenke freuten sich und ich fühlte mich wirklich hübsch!
Dann kam irgendwann mit Anfang 40 die Depression. Genau weiß ich es gar nicht mehr. Und ich aß immer mehr Süßigkeiten und ich nahm kontinuierlich zu. Was in der Depression nicht einfach war – das Selbstbildnis, dass nur bei bestimmten Kilos stimmte – zerbrach. Und neben Antriebslosigkeit, Anspannung und anderen Symptomen fühlte ich mich so wertlos, weil ich immer dicker wurde und nichts dagegen tun konnte. Es war ein Teufelskreis und die Spirale ging nur noch abwärts…..
Ich beurteilte die Tage nach der Waage, gutes oder akzeptiertes Ergebnis und ich war zufrieden – schlechtes Ergebnis, der Tag war schlimm, ich war zickig, unglücklich und manchmal einfach unausstehlich. Mein Spiegelbild zu betrachten, war die Hölle….
Langsam aber sicher akzeptiere ich, dass ich liebenswert bin – egal wie viel ich wiege. Auch mit dicken Beinen und mit Bauch darf ich mich so lieben, wie ich bin. Ich muss nichts Tolles im Beruf leisten um liebenswert zu sein, sondern ich muss einfach morgens nur aufstehen und da sein. Das macht mich schon liebenswert.
Ich möchte nie mehr Kalorien zählen oder mir bestimmte Lebensmittel verbieten. Ich esse Käse wenn ich Hunger auf Käse habe. Wenn ich Butter will, dann gibt es Butter. Ich kaufe keine Lowfett-Produkte oder Süßigkeiten. Ich esse wenn ich Hunger habe und höre auf wenn ich satt bin. Ich wiege mich nicht mehr, weil ich mich nicht davon abhängig mache, wie viel ich gerade wiege und ich möchte auch nicht mehr “meine Zeit danach” planen, was ich mache, wenn ich dünn bin. ICH LEBE JETZT!!!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone