Die dritte Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:
Hallo Simone!
Ich bin nun schon seit über einem Jahr auf Deiner Seite unterwegs und lese begeistert Deinen Blog.
Leider gehöre ich zu den Frauen, die auf den richtigen Augenblick warten, ab dem alles anders werden soll, obwohl ich insgeheim weiß, dass es den nicht gibt und nur noch nicht den Mut und den endgültigen Willen habe, den Kampf gegen meine Bulimie aufzunehmen. Jedenfalls bin ich fest entschlossen, mich für den Workshop anzumelden, nur bin ich das leider schon seit dem Zeitpunkt, an dem ich Deine Seite entdeckt habe…
Meine Angst ist, dass ich einfach nicht die Zeit und die innere Ruhe aufbringen kann, mich durch den Workshop zu arbeiten, wenn ich mich dann wirklich angemeldet habe.
Nun zu mir: Ich bin 43 Jahre alt und leide seit 1986 unter Essstörungen.
Angefangen hat es mit Magersucht, die dann 1989 in Bulimie umgeschlagen ist. Ich weiß noch genau, wann ich das 1.Mal gekotzt habe: am 19.03.1989. Danach ging es dann ziemlich schnell, dass ich täglich gefressen und gekotzt habe, meistens 2-3 Mal am Tag. Mein Leben ist seitdem stark eingeschränkt und wird total von der Bulimie bestimmt. Ich habe auch schon mehrere ambulante und stationäre Therapien hinter mir, die mir auch teilweise was gebracht haben, was Erkenntnisse und Einsichten anbetrifft. Nur mein Essverhalten bekomme ich nicht in den Griff.
Ich fange mal am Anfang an: mit 15 Jahren wollte ich gerne ein wenig abnehmen, eigentlich 2-3 kg. Ich wog 52-53 kg bei einer Größe von 1,65 m. Ganz normal eigentlich, aber ich fand meinen Bauch zu dick und wollte die magischen 50 kg erreichen. Ich habe nie eine wirkliche Diät gemacht, sondern einfach nur bewusster gegessen und nach und nach immer mehr weggelassen. Schon nach einem knappen Jahr hatte ich die 40 kg unterschritten und machte das erste Mal eine stationäre Therapie. Mein Hausarzt hatte zum Glück schon sehr früh erkannt, dass ich in die Magersucht gerutscht war. Nur leider war dieser 6-wöchige stationäre Aufenthalt in den Sommerferien nicht wirklich erfolgreich. Die Therapeuten meinten, ich hätte nicht wirklich Magersucht. Ich nahm dort einfach nur zu und wog bei meiner Entlassung 44 kg, die ich natürlich nach meiner Entlassung nicht halten konnte und wieder abnahm.
Zu der Zeit war ich in der elften Klasse auf dem Gymnasium. Ich nahm dann bis auf 35 kg ab und war unglücklich. Irgendwann konnte ich wohl nicht mehr und fing an, an einigen Tagen ordentlich zu schlemmen, abgewechselt mit asketischen Tagen. Wobei ich aber nie, auch nicht während meiner extremsten Hungerphasen, nur einen Apfel oder so gegessen habe, aber halt sehr kontrolliert und fettarm. Im Laufe der Zeit habe ich dann zugenommen und wog Anfang 1989 53 kg. Da bekam ich Panik und habe es mit dem Erbrechen versucht. Das wusste ich aus einer Selbsthilfegruppe, die ich einige Zeit besucht habe. Mit dem Kotzen hat es nicht gleich geklappt, aber am 19.03.1989 dann “endlich” doch. Lange Zeit habe ich dann wirklich täglich gefressen und gekotzt.
Nebenbei hab ich mein Abi trotz etlicher Fehlstunden, die ich auch oft für Fressorgien genutzt habe, geschafft und eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Während der Ausbildung bin ich zu Hause ausgezogen und danach habe ich gleich eine Stelle gefunden. Aber auch meine Arbeit wurde durch die Bulimie beeinflusst, ich habe relativ häufig zwischendurch mal ein paar Tage krankgefeiert, obwohl ich nicht krank war. Das lag auch an meinem Nebenjob in der Gastronomie, der mir sehr wichtig war. Einerseits wegen des Geldes, andererseits wegen der Ablenkung.
Ich bin eigentlich sehr kontaktfreudig und gerne mit Menschen zusammen und kann nicht gut alleine sein. Da ich aber durch diesen Job oft sehr wenig Schlaf hatte, war ich einfach manchmal zu müde, um morgens zur Arbeit zu gehen. Das machte natürlich nicht den besten Eindruck, und als dann betriebsbedingt einige Mitarbeiter entlassen wurden, gehörte ich dazu. So war ich auf einmal arbeitslos. Meinen Job im Bistro war ich auch bald los, weil ich dabei erwischt worden bin, als ich heimlich Essen mitgenommen habe. Auf Anraten meiner damaligen Neurologin habe ich mich krankschreiben lassen und wollte erneut eine stationäre Therapie machen. Das war 2003. 1998 hatte ich bereits eine weitere stationäre Therapie gemacht, die aber auch nicht wirklich was gebracht hat. Ich hatte sie auch vorzeitig beendet bzw. eine Verlängerung nach drei Wochen abgelehnt. Ich konnte dort auch täglich meinen Fressorgien nachgehen, was ich auch ausgenutzt habe. Ich war einfach noch nicht soweit.
2003 wurde eine Therapie abgelehnt, da ich nur 30 kg wog. Ich bin seit meiner gesamten Bulimie mäßig bis sehr stark untergewichtig. Und bei starkem Untergewicht bekommt man einfach keine Bewilligung. Ende 2004 habe ich mich dann dazu durchgerungen, in ein sogenanntes Akutkrankenhaus zu gehen. Die Therapie dort war auch wirklich gut, ich habe es tatsächlich geschafft, in den sieben Wochen die ich dort war, nicht zu kotzen. Und es war gar nicht sooo schwer.
Nach den sieben Wochen bin ich wieder nach Hause, weil 78 Wochen krankfeiern vorbei waren und ich kein Krankengeld mehr bekommen hätte. Leider hatte meine kotzfreie Zeit ziemlich schnell ein Ende, ich bin zurück in meinen alten Trott verfallen. Ich musste ja wieder selber entscheiden, was und wieviel ich essen durfte und hatte auch einfach keine Tagesstruktur. Ich habe mich wieder gesundschreiben lassen und habe beim Arbeitsamt eine EDV-Weiterbildung beantragt, die ich nach einigem Hin und Her auch bewilligt bekommen habe, nachdem mir von meinem Arzt und vom Arzt vom Arbeitsamt bescheinigt wurde, dass ich wirklich arbeitsfähig war.
Durch totales Glück habe ich direkt im Anschluss eine neue Arbeitsstelle gefunden, die mir auch ganz gut gefiel. Aber diese Firma ging 2009 insolvent, und wieder war ich arbeitslos. Zu dieser Zeit bin ich allerdings mit meinem Mann zusammengekommen, was die Arbeitslosigkeit erträglich gemacht hat. Vorher hatte ich, wenn überhaupt, nur sehr kurze Beziehungen, was in erster Linie an meiner Bulimie lag, mit der sich einfach keine Beziehung vereinbaren ließ. Meinen Mann kannte ich schon vorher sehr lange, wir hatten zusammen im Bistro gearbeitet. Er wusste also über meine Probleme Bescheid und ich war von Anfang an offen zu ihm und habe nichts verheimlicht. Er hilft mir auch heute noch sehr, einfach indem er da ist und mich nicht unter Druck setzt bzw. mir kein Ultimatum setzt. Vielleicht ist das auch falsch, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er mich liebt, und ich liebe ihn.
Zum Glück habe ich sofort neue Arbeit über eine Zeitarbeitsfirma gefunden. Hierüber bin ich in einer Firma gelandet, die mich mittlerweile übernommen hat – wenn auch mit Zeitvertrag – in der ich mich total wohl fühle.
Tja, eigentlich könnte mein Leben sehr schön sein: ich habe einen Mann, mit dem ich glücklich bin, ich habe eine Arbeit, die mir Spaß macht und ich bin (seltsamer Weise und zum Glück) körperlich (noch) völlig gesund. Wenn da nicht diese verdammte Bulimie wäre! Zwar habe ich mittlerweile Freitag und Samstag kotzfreie Tage, an denen ich auch mit meinem Mann Abends häufig essen gehe und dieses auch recht gut genießen kann, aber die anderen Tage verlaufen nach Schema F: Tagsüber arbeiten, Abends essen und kotzen. Nur einmal am Tag und zu geregelten Zeiten, aber eben geregelt. Ich kann es mir auch anders irgendwie nicht vorstellen. Ich bin ein totaler Kontrollfreak geworden, bei dem alles geregelt ablaufen muss. Ich wüsste auch gar nicht, was ich abends zu meiner „Essenszeit“ sonst machen sollte.
Mein Problem ist diese Lustlosigkeit und dieses Desinteresse an allem. Ich weiß einfach nicht, was mir Spaß macht und wie ich mir Gutes tun kann. Ausprobiert habe ich wirklich schon Einiges, aber nichts war dabei, was mich wirklich erfüllt und erfreut.morge Ich weiß einfach nichts mit meiner freien Zeit anzufangen und freue mich den ganzen Tag auf mein Essen am Abend. Überhaupt freue ich mich immer aufs Essen, auch tagsüber während der Arbeit, wo ich schon etwas esse (allerdings jeden Tag so ungefähr das Gleiche ungefähr zur gleichen Zeit) habe ich immer die Uhr im Blick, wann es denn endlich soweit ist, dass ich etwas essen darf. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es möglich sein soll, anders zu denken. Aber irgendwie glaube ich fest daran, dass es gehen kann, andere können es doch auch?! So ganz habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ich weiß einfach nur nicht, wie und wo ich ansetzen soll und wie ich die Abende ohne mein Fressen durchstehen soll. Mir fehlten der Mut und die Kraft zum Anfangen. Hinzu kommt, dass ich nur beim Fressen abschalten kann und meinen Kopf leer bekomme. Ansonsten bin ich immer am Denken und Grübeln. Außerdem habe ich gar kein Sättigungsgefühl, und es ist schon sehr unbefriedigend, nie gesättigt vom Tisch aufzustehen. Hunger empfinde ich schon, aber ich glaube, ich lasse den Hunger meistens zu groß werden, bevor ich etwas esse.
Noch ein Problem ist, dass ich eigentlich immer Durst habe. Ich trinke zwar viel und verbiete es mir auch nicht, aber der Durst geht eben nie wirklich weg. Kaugummis und Bonbons helfen, aber immer kauen und lutschen will ich auch nicht. Ich drehe mich einfach im Kreis und komme da nicht raus. Mein letzter Therapeut war ganz begeistert, wie viele Erkenntnisse ich schon habe und fand es toll, wie wir miteinander reden konnten. Aber was nützen mir Einsichten und Erkenntnisse, wenn ich nicht weiß, wie ich meine Bulimie trotzdem nicht besiegen kann??? Ich glaube, bei mir ist wirklich der Suchtfaktor vorherrschend nach all den Jahren (fast 29!). Es passiert mir nie, dass ich aus emotionalen Gründen fresse und kotze, sondern ich tue es einfach, weil es mein abendlicher Ablauf ist und ich mich auf das viele leckere Essen freue.
Obwohl ich eigentlich gesellig bin und gerne mit Menschen zusammen bin, gehe ich nicht sehr oft aus. Wenn mein Mann und ich Essen gehen, zieht es mich danach immer total nach Hause, dort fühle ich mich irgendwie sicher und kann halbwegs entspannen. Wenn wir noch weiterziehen oder eingeladen sind, bin ich immer sehr angespannt und möchte schnellst möglich nach Hause. Das nervt mich.
Übrigens bin ich schon jemand, der seine Meinung sagt und nicht immer das macht, was andere von einem erwarten. Natürlich plagt mich häufig das schlechte Gewissen und ich mache mir Gedanken, was andere wohl von mir denken, aber im Endeffekt lasse ich mich von anderen nicht verbiegen.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone