Warum wir öfters mal aus der Reihe tanzen sollten

“Musst du denn (immer) aus der Reihe tanzen?” ist ein Vorwurf, den wir schon im Kindesalter nicht gerne hören und der dazu führt, dass wir uns für unser akutes Anderssein schämen und verurteilen.

Natürlich funktioniert eine Gesellschaft nur, wenn sich möglichst viele Menschen an gewisse Regeln halten. Und es ist auch gut und richtig, anderen Menschen gegenüber nett und höflich zu sein und sich nicht permanent wie die berüchtigte Axt im Walde zu benehmen oder sich chronisch in den Vordergrund zu drängen.

Aber:

Wer niemals aus der Reihe tanzt, der geht in der Masse unter

Meine größten Lehrmeister sind meine Kinder. Mein jüngster Sohn ist in seinem letzten Kindergartenjahr und er war immer eines dieser total unkomplizierten und unauffälligen Kinder. Bis letzten Montag. An diesem Tag weigerte er sich urplötzlich mit den Worten “Kindergarten ist doof, ich will heute zu Hause bleiben”, aus dem Auto zu steigen.   “Okay”, dachte ich mir, “dann nimmst du ihn halt wieder mit nach Hause, morgen wird er schon wieder Lust haben.” Pustekuchen. Er tanzte weiter aus der Reihe und weigerte sich, so dass ich mit dem Kindergarten und mit ihm eine Woche “Sonderurlaub” vereinbarte.

Aber auch an diesem Montag gab es wieder Drama. Da unsere Vereinbarung aber “eine Woche” lautete, nahm ich ihn nicht wieder mit nach Hause. Er protestierte lautstark und tanze weiter aus der Reihe. Ja, es war anstrengend für mich und ich war zunächst rat- und hilflos.

Wir haben jetzt vereinbart, dass er früher abgeholt wird, weil er sich häufig im Kindergarten langweilt. Und er hat von Seiten des Kindergartens “Extrawürste” zugesichert bekommen. Er, das unkomplizierte Kind. Er ist aus der Reihe getanzt, um besser gehört und gesehen zu werden. Und es hat funktioniert.

Denn:

Wer aus der Reihe tanzt, nach dessen Pfeife tanzen die anderen

Während bisher naturgemäß die auffälligen und kleinen Kinder die meiste Aufmerksamkeit bekommen haben, bekommt er durch sein “aus der Reihe tanzen” jetzt auch wieder mehr. Und zwar sowohl im Kindergarten als auch zu Hause. Denn alle Seiten versuchen, ihm keine Vorwürfe zu machen sondern die Ursachen seines Protests  zu verstehen und gegebenenfalls zu ändern, damit er wieder mehr Lust auf seinen gewohnten Alltag hat.

Ich tanze gerne und manchmal auch aus der Reihe…

Und durch diese “Lehrstunde” habe ich mich an ein Ereignis während meiner Klinikzeit erinnert. Einer der Krankenpfleger, selbst ehemaliger Alkoholiker und einer dieser herzlichen aber harten Hunde, warf mir vor, zu unauffällig zu sein. Mit anderen Worten: Es störte ihn, dass ich so gar nicht aus der Reihe tanzte!

Ärgerlich über diesen Vorwurf meldete ich mich während der nächsten Gruppen-Therapiestunde und tanzte aus der Reihe in dem ich verlangte, jetzt – anstelle der Dauer-Aufmersamkeits-Heulsusen – auch mal dran zu sein. Obwohl es vielleicht andere gab, denen es gerade schlechter ging. Obwohl es vielleicht andere gab, die es gerade nötiger gehabt hätten.

An die Übung die mir auferlegt wurde, erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch ganz deutlich an das gute Gefühl, welches ich gegen Ende der Prozedur hatte, als ich jedem “Mit-Insassen” in die Augen schaute und den Satz: “Schau mal, so bin ich!” sagte.

Ja. So bin ich. Ich tanze sehr gerne. Und manchmal auch aus der Reihe!

Wann bist du das letzte mal aus der Reihe getanzt und mit welchem Ergebnis?