Kathrins Genesungsweg Teil 16: dazwischen

Ich erinnere mich noch sehr genau an die Zeit, als ich in die Essstörungen abdriftete. An die Zeit, als Nicht-Essen, Verzicht, Abnehmen und Stolz immer stärker wurden.

Abnehmen hatte in meiner Familie einen exzellenten Ruf, es gab keine Kritik oder Sorge – Freunde, Lehrer und Bekannte jedoch merkten die Dramatik, die sich ankündigte. Ich war so stark aufs Schlank-Bleiben konzentriert und relativ hilflos, wie ich jemals, sollte ich wieder anfangen normaler zu essen, mein gewonnenes Ideal halten könnte. Diese massive Sorge und auch insgesamt wenig gelebte Auseinandersetzung mit gesundem, genussvollen Essen ließ mich schier verzweifeln. Ich merkte dass ich immer kränker wurde und war hilflos wie ich mit dem schwierigen und wenig greifbaren Problem umgehen sollte. Die vielen Komplimente und Lobhudeleien schmeichelten mir, zumal ich selbst nicht aus Normalgewicht sondern Übergewicht in die Essstörungen abgedriftet war.

Ich suchte Hilfe bei einer renommierten Anlaufstelle für Essgestörte und schilderte mein Problem, zwischendurch hatte es einen kurzen aber handfesten „Ausflug“ in die Bulimie gegeben, der selbst mich wachrüttelte und die Bedrohlichkeit der Essstörungen verdeutlichte. Und leider passierte genau das, was mich schon monatelang insgeheim davon abhielt mir Hilfe zu suchen: Ich passte nicht richtig in die Rolle einer Essgestörten aus Sicht der Expertin. Für eine Magersucht war ich zu wenig untergewichtig, für Bulimie einfach noch nicht oft genug anfällig und ob mein früheres Übergewicht aus Binge-Eating entstand wagte man dort zu bezweifeln – ich übrigens auch. Also eigentlich war ich gar nicht „richtig krank“, sondern „nur“ etwas dazwischen.

Ich fühlte mich und mein Ess-Problem nicht ernst genommen und mein kläglicher, geradezu komischer Versuch alleine eine Therapie zu machen und das Problem aus Sicht der Therapeuten „dringend einer Familientherapie bedarf“ scheiterte.

Es mag ein schleichender Prozess gewesen sein und ich war mir der Essstörung immer noch bewusst, aber bei mir kam die Botschaft „nicht krank genug“ an, gepaart mit der Erkenntnis, dass eine Veränderung meines Selbstwertes, meine Familie und alles damit Verbundene ins Wanken bringen könnte.

Ich hatte Angst um mein Abitur, den Führerschein, die Sicherheit und die Liebe meiner Familie, würde ich mich jetzt mit den Ursachen auseinandersetzen und etwas verändern. Hinzu kam, dass sich Essgestörte eher nach unten als nach oben orientieren – frei nach dem Motto „anderen geht es noch viel schlechter“ (die Schiene mit der Dankbarkeit zog bei mir nahezu immer), anstatt zu überlegen, wo man ansetzen könnte um die Lebensqualität zunächst langsam, dann aber erheblich zu steigern.

Aus heutiger Sicht ist mir völlig klar, dass man manchmal ein wenig graben muss, um an diejenigen zu geraten, die einem wirksam helfen können. So wenig ernst wie ich damals meine Krankheit genommen habe, taten es auch Expertin in der Beratungsstelle und Therapeutin – ich leugnete die Problematik, die Aussagen „nur irgendwas dazwischen“ und „das schreit nach einer Familientherapie“ fielen bei mir auf fruchtbaren Boden.

Zwischen den Störungen oder: wie krank willst du werden?

Meine Botschaft im November lautet geradezu einfach:

Warte nicht ab!

Essstörungen kommen nicht von allein und sie verschwinden selten von allein. Essstörungen haben Ursachen und wollen gesehen werden, solange bis du sie siehst. Ignoriere Einschätzungen, nach denen es normal ist Diät zu halten und „wir halt alle ein bisschen Probleme mit dem Essen haben“ oder Sportübungen und eine eiweisslastige Ernährung dich „sexy“ macht – essen ist nie das Problem bei Essstörungen und du würdest nicht drüber nachdenken, wenn du nicht bereits ahntest, dass etwas tiefer Liegendes nicht stimmt.

Es ist egal, an welchem Punkt du dich mit deiner Essstörung befindest. Hilfe soll helfen und kann es auch. Wichtig ist dabei, dass du dein Problem ernst nimmst – das ist der erste Schritt und den wird dir keiner abnehmen können.

Auf was wartest du (noch)?