Kathrins Genesungsweg Teil 14: Strukturen
Als ich essgestört war, war ich „unauthentisch“, aber nicht über-strukturiert. In der Hoch-Phase meiner Essstörungen hatte ich einen Stundenplan, der mich kaum noch atmen lies. Ich habe mich unter Druck gesetzt noch mehr leisten zu müssen, noch stärker in das Hamsterrad zu treten und noch stärker an meine Grenzen zu gehen, bis ich nicht mehr konnte. Da es keine Möglichkeit eines Klinikaufenthaltes gab, versuchte ich teils alleine teils mit gezielter Hilfe zu durchblicken, was da mit mir passiert und was ich über Jahre verdrängt habe, also wo der wahre Grund meiner Essstörung lag. Voraussetzung dafür war – wie hier schon öfter erwähnt – die bedingungslose Kapitulation vor meiner Krankheit und die Akzeptanz im schlimmsten Falle sehr viel zuzunehmen, wenn ich denn dann endlich erfahre was mein Problem ist.
Mein Problem war nicht die Struktur oder der Plan selbst, sondern womit ich ihn gefüllt habe/ füllen ließ. Bei genauer Betrachtung war nichts mehr von dem, was ich machte, wirklich ich. Nichts oder nur sehr wenig spiegelte zu dem Zeitpunkt meine Wünsche, Bedürfnisse, Hobbies und Kompetenzen wider. Das betraf fast alle Lebensbereiche. Meine Kreativität war im Keim erstickt, nicht weil sie Pläne so sehr scheut, sondern weil sie in meinem speziellen Plan schier keinen Platz hatte. Die inspirierende Birgit Medele hat dazu in ihrem Buch „Leben statt Kleben“ einen anderen Gedanken treffend zum Ausdruck gebracht: „Allen Klischees zum Trotz gedeiht Kreativität aber nicht im Chaos. Nach der Genialphase braucht die zündende Idee ihre bodenständigen Geschwister Disziplin und Organisation“.
Als ich mich in Therapie begab und meine Therapeutin fragte, was ich mir in meinem Leben anders wünschen würde, war mein erster Gedanke „welches Leben?“. Vielmehr hatte ich mir ein starres Raster zugelegt, das kaum noch etwas übrig ließ außer den riesigen Hunger, der immer stärker ausbrach und immer schwieriger zu stillen war.
Ich bin und bleibe ein Strukturmensch, aber heute erlaubt mir meine Struktur zu sein, wer ich bin. Ich steuere mittlerweile auf einen Beruf zu den ich jetzt schon liebe und der mir gut tut. Ich pflege meine Hobbies, genieße ehrliche Freundschaften, bilde mich weiter in Richtungen, die mich bereichern und lebe einen Plan, der mich als den Menschen erscheinen lässt, der ich sein will.
Ich kann mit und ohne diesen Plan leben, Hauptsache und unbedingte Voraussetzung für alles ist, dass ich mich vollends damit identifizieren kann. Ich lehne halbherzige Unterfangen, Projekte und Beziehungen immer häufiger ab. Das spiegelt sich in meinem Plan, meiner Wohnung, meinen Beziehungen wider. Dabei hat mir ein neues Raster geholfen, ein Raster, das sich mit viel Zeit ergeben hat, das ich vertreten, mit Freude leben und auch mal mit Humor ignorieren kann. Das war früher anders, ich hatte das Gefühl kaum etwas zu besitzen, trotz guten Gehalts, viel Anerkennung und „nützlichen Kontakten“. Ich war nicht mehr da. Sicher war die Essstörung nicht erst in dieser selbstgestrickten Überforderung geboren, (sondern mindestens rund 10 Jahre früher), aber ich habe ein altes ungesundes Schema re-inszeniert und bin innerhalb dessen an meine Grenzen gegangen. Der Schritt einen Plan zu entwerfen, der sich gut, gesund und authentisch anfühlt, hat mir dabei geholfen. Immer wieder zu hinterfragen, was ich wirklich in meinem Leben habe und brauche, gehört ebenfalls dazu.
So war eine Nebenwirkung das unmögliche Umkehren von meiner wiedergewonnenen Selbstliebe, was Dürrenmatt so philosophisch mit dem Satz „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ zusammenfasste. Wer sich weiterbewegt und anfängt zu hinterfragen, kann damit nicht einfach aufhören. Das „Aufräumen“ macht vor nichts halt. Nicht immer einfach, gelegentlich ernüchternd, aber was übrig bleibt ist, ist ganz sicher authentisch, denn es ist meins. Jeder Weg raus aus der Essstörung ist individuell, das richtige Maß an Struktur und Freiräumen zu finden ist eine der Aufgaben, mit denen es sich lohnt auseinanderzusetzen. Hauptsache ist, es lässt den Menschen dahinter wieder erkennen.
Wie authentisch sind deine momentanen Strukturen?