Klinikbericht: “Essstörungen und ein Sommer in Bad Kissingen”

Dieser ausführliche und sehr ehrliche Klinikbericht hat mich auf Grund meines Neujahrswunschs an euch erreicht:

Hallo Simone,

ich habe im letzten Jahr deinen Workshop gemacht. Im vergangenen Sommer bin ich dann nochmal in die Parkklinik Heiligenfeld nach Bad Kissingen gekommen. Es war eine wichtige und sehr heilsame Zeit. Anschließend hatte ich den Eindruck, ich müsste die ganze Zeit nochmal aufschreiben, um richtig verarbeiten zu können.

Das habe ich getan, obwohl ich bei dem Erfahrungsbericht keinen Anspruch auf Vollständigkeit verfolge.

Ich sende dir diesen Bericht zu, weil ich – wenn du es so entscheidest – damit ein Stück mehr an die Öffentlichkeit gehen will, um anderen Mitstreitern einen Einblick geben zu können.

Es war zwar dein Wunsch aus dem gesammten Erkrankungserfahrungen zu schreiben, aber meiner Meinung nach wird viel zu oft einfach nur aufgeschrieben, wie scheiße es jemandem ging und nicht, was hinter der Essstörung für Sehnsüchte stecken und wie diese Heilgung erfahren.

(D)eine Geschichte

Am Bahnhof in Würzburg geht direkt vor meiner Nase ein Zug nach Bayreuth. Ganz viele ungute Vorahnungen lassen die Vorstellung einfach ein paar Tage meinen kleinen Bruder zu besuchen furchtbar attraktiv erscheinen. Wer wollte noch mal in die Klinik? Warum noch noch mal? Ich? Die Sonne scheint doch gerade…

Nun ja, was soll’s. In der Klinik angekommen, werde ich von meiner Patin in Empfang genommen. Praktischerweise leidet sie an sozialer Phobie und bekommt schon beim Händedrücken eine Panikattacke. Ich fühle mich quasi vom ersten Moment an in dieser riesengroßen Klinik geborgen und wohl.

Aber ich will ja nur ungefähr 6 Wochen bleiben. Sprich in drei Wochen, wenn die Hochzeit meines großen Bruders ist, feiere ich vielleicht schon Bergfest. 6 Wochen schaffe ich… Gut, dass ich mir nicht mehr vorgenommen habe.

Dennoch ist mir vom ersten Tag an klar, dass es kein leichter Marsch wird. Zu einer Person in der Einzeltherapie Vertrauen aufzubauen ist weitaus leichter als zu einer ganzen Gruppe. Und dieses Gefühl dauert lange an… Ich will in die Christoph-Dornier-Klinik. Da war alles so klein und vertraut. Ich war so beschützt dort. In Heiligenfeld habe ich soviel Angst. Ich will mich nicht bewegen.

Seit Jahren habe ich einen Traum, der mich jede Nacht begleitet. Ich träume von meiner ambulanten Verhaltenstherapeutin. Ich bin ihr Adoptivkind. Das Kind tickt im Traum früher oder später immer wieder aus und wird dann von ihr wie von einer Mutter gehalten. Richtig fest gehalten. Solange bis es weint. Seinen Schmerz und seine Angst raus lässt und sich wieder beruhigt. In Heiligenfeld „brauche“ ich den Traum nicht mehr. Er kommt einfach nicht mehr.

In den ersten Tagen verlaufe ich mich ständig. Ich komme sogar zur Kerngruppentherapie zu spät. Wo ist denn etwas Stabiles? Noch nicht mal das Internet läuft vernünftig, um ein paar vertraute Sendungen zu schauen.

Malen geht…. Zum Thema Struktur ist mir sofort eingefallen, dass ich mal endlich meine Brüder und mich in der richtigen Reihenfolge aufmalen muss.

Und dann habe ich zum ersten mal in der Kerngruppe geredet und geweint. Von Heimweh… Ohne zu wissen, wo das Heim denn aktuell sein soll. Davon wie schön eine Höhle ist und dass ich mir wünsche wieder wie früher mit meinen Brüdern zusammen zu leben. Kind sein wollen. Und wenn ich dann vom Spielen mit Freunden komme, mit meinem kleinem Bruder einfach weiter zu spielen… und dann wurde sichtbar, dass andere Kerngruppenmitglieder genau die gleichen Schmerzen spüren und einfach mit weinen. Wie? Denen geht’s genauso? Eine Mitpatientin muss auch weinen, weil  ihre Höhle nicht mehr existiert?! Weil sie dann auch plötzlich völlig überrumpelt alleine da stand und alles können sollte.

Es war dein Bruder, Mann!! Nicht dein Partner. Heul nicht rum. Du gehst jetzt einfach studieren und kriegst gefälligst alles auf die Reihe. Jetzt!! Ja, gestern durftest du noch spielen. Und Mama und Papa haben alles geregelt. Aber das ist eben ab heute anders. Jetzt bist du erwachsen. Also verhalte dich auch so. Kein Erwachsener vermisst seinen Bruder. Erwachsene liegen nicht wie Kinder in der Höhle und haben Angst vor der Draußen-Welt. Auf meinem Personalausweis steht, dass ich 25 Jahre alt bin. UND VERDAMMT: Ich habe Angst vor der Draußen-Welt. Ich vermisse meine Höhle! Und andere Menschen tun das auch…

Jede Woche kommen neue Patienten. Jede Woche gehen alte Patienten. 3 Tage wird jeder begrüßt. 3 Tage wird jeder verabschiedet. Viele, viele Rituale! Nach 2 Wochen habe ich dann auch mal das Gefühl „angekommen“ zu sein. Dienstagabend: Wir sitzen im Musikzimmer zusammen und feiern Abschied. Es ist urgemütlich. Ich spüre ganz viel Wärme. Als ob ein riesiger Kachelofen mitten im Raum steht. Ich spüre so etwas, was man wohl Verbundenheit nennt. Und dann bricht es auf… es fängt an… Ich vermisse Mama. Ich vermisse sie so schrecklich.

Alles ist so chaotisch. Wieder mal Kunsttherapie. Was soll ich denn nur malen? Ja, klar: Chaos!! Chaos ist gut. Erst wenn alles Alte zusammenbricht, kann ich aus den Trümmern ein neues Haus bauen. Okay. Aber Chaos fühlt sich schrecklich an. Ganz und gar unsicher. Mit dem Rauslassen und es in Kreativität umsetzen komm ich richtig in Fahrt. Ich werde ganz aufgeregt und am Ende ist da ein Weg, eine Sonne und ganz, ganz viele bunte Farben.

In dem Bericht von meiner ambulanten Therapeutin für die Krankenkasse steht: „Die Mutter ging kurz nach der Geburt wieder arbeiten, da sie es alleine mit dem Säugling nicht ausgehalten habe.“ Mama, warum? War ich so schlimm? Okay, ich will mich bessern. Morgen früh um 6 Uhr gehe ich wieder eine Stunde laufen. Sonst schaffe ich das einfach bei dem vollem Therapieplan nicht. Und abends steht ja auch noch Chor auf dem Programm. Das wird Mama sicher auch freuen, dass ich das hier mache.

Komisch, ich hab immer noch manchmal abends Rückfälle. Dabei gebe ich mir doch solche mühe!!! Scheiße. Ich bin aber auch immer so angespannt. Ich hatte heute einen extrem vollen Tag. Na ja, wie eigentlich immer. Inzwischen nehme ich alles so ungewohnt intensiv war. Und dann quatschen mich selbst in den kurzen Pausen die Leute mit ihren Schreckensgeschichten voll. Wie soll ich auch begreiflich machen, dass ich es gerade gar nicht hören will. Sie werden mich alle hassen. Und dann ist die Klinik auch noch so riesig und hier rennen bestimmt 10.000 Menschen rum, die alle ganz schlimme Dinge erlebt haben.

In der Christoph-Dornier-Klinik kam ich mit dem Abendessen irgendwie von Anfang an besser klar. Dort habe ich mich permanent beobachtet gefühlt und das hat mir perfider weise Sicherheit gegeben. Hier fühle ich mich gerade total verlassen . Keine innere Ruhe mehr. Zum Kotzen aber auch, dass die Therapeuten immer behaupten, ich würde gut in den therapeutischen Prozess einsteigen. Ich höre daraus immer, dass ich mich perfekt anpasse, was ich hasse und nicht mehr will. Vielleicht habe ich ja deshalb gekotzt. Weil es mich ankotzt?! ? Ich bin gerade ganz aufgeregt. Innerlich total aufgewühlt. Bin ganz wirsch im Kopf. Wieder wird meine gesamte Ordnung durcheinander geworfen. Vielleicht habe ich mit Hilfe des Ess-Brech-Anfalls ein Stück Stabilität bekommen. Alles verändert sich, aber der Ablauf eines Ablaufs ist mir wohl vertraut. Es war okay. Der Anfall war okay. Nach 2 ½ Wochen kann ich noch keine Wunder erwarten.

So, und wie geht’s mir nun mit dem Thema Weiblichkeit, auf das in den letzten Tagen mit Vorliebe von meinen beiden Bezugstherapeuten angesprochen wurde? Im ersten Moment wurde ich etwas sauer. Nein, jetzt, wenn ich darüber nachdenke, bin ich sogar sehr sauer. Ich fühle mich auf den Schlips getreten. Ich will anziehen, was ich will. Von selbst habe ich das Thema nicht auf den Tisch gebracht. Aber vielleicht meinen die ja auch gar nicht meinen Klamottenstil, sondern, dass sie spüren, dass ich mich nicht als Frau fühle. Eher so neutral. Neutral bin ich nicht angreifbar. Gestern ging mir das Thema ziemlich nah. Meine Bezugstherapeutin hat eine Grenze überschritten. Ich war nach dem Gespräch schon auf dem Weg in die Stadt, um die nächsten Stunden alles mit Hilfe eines Ess-Brech-Anfalls zu vergessen. Auf dem Weg habe ich eine Mitpatientin getroffen und ich hab für mich das fast unvorstellbare geschafft: Ich bin mit ihr in den Malraum gegangen und hab ein wildes Bild gemalt.

Bei jedem Rückfall hab ich mich geschworen zur Pflege zu gehen und ein Protokoll abzuholen. Okay… gehen wir mal los. Und gehen doch wieder zurück. Ich brauche drei Anläufe um endlich in den Raum zu gehen und nach dem Zettel zu fragen. Jedes mal. Und dann muss ich ihn ausfüllen und abgeben. Gott. Genau, der wusste bisher immer nur Bescheid und jetzt entscheide ich mich, es öffentlich zu machen. Jedes mal. Jep. Weil es einfach aufhören muss! Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Sucht ist so anstrengend und nimmt mir so unglaublich viel.

Und doch hören die Anfälle vorerst nicht auf. Ich will perfekt sein. Perfekt funktionieren. Laufen, alle Termine einhalten, die Uni gut bis sehr gut schaffen, morgens früh aufstehen, am besten bedürfnislos sein, weil ich dafür nicht auch noch Zeit habe, keine Schwächen haben, mich perfekt im Gespür haben, gesund essen und da gehört bei allem eben auch schlank und durchtrainiert sein zu. Warum muss ich so sein? Nur mir selbst gegenüber bin ich so hart. Mit anderen Menschen gehe ich weitaus liebevoller und nachsichtiger um. Hab ich Angst vor Ablehnung? Hab ich Angst unvollkommen nicht dazu zu gehören?

Ich kann mich schmerzlich an Situationen als kleines Kind erinnern, in denen ich mit Mama oder Papa schmusen wollte und sie mich ohne das ich etwas böses gemacht habe, weggestoßen haben. Sie konnten oder wollten gerade nicht. Es tat so weh!!! Ich hab nicht verstanden, was ich falsch gemacht habe. Welchen Fehler habe ich gemacht? Es gab keine bedingungslose Liebe. Wenn ich mich anstrenge, kann ich vielleicht Liebe bekommen. Aber damit das jetzt alles nicht so weh tut, beschäftige ich mich lieber mit Essen und Gewicht.

Das Durcheinander in meinem Kopf wird immer schlimmer. Hier verändert sich so viel. Was verändert sich? Ja, ich… aber so schnell? Ich vermisse Mama. Ich vermisse meinen kleinen Bruder. Wenn ich mich jetzt zu schnell verändere? Passe ich dann nicht mehr in meine Ursprungsfamilie? Kann ich dort nicht lebendig sein? Ich bin völlig verzweifelt, weil ich nicht weiß, wie ich mit meiner ganzen Energie umgehen soll. Was ist der Weg? Wie ist der Weg? Wie ist mein Weg? Finde ich den passenden Weg für meine unglaubliche Kraft, Lebendigkeit und Energie? Da ist verdammt viel! Wirklich!!!

Ich entscheide mich, nicht mehr laufen zu gehen. Dieser scheiß Zwang! Wie sehr habe ich mich damit immer unter Druck gesetzt. Wann schaffe ich es, laufen zu gehen? Plane die ganze Woche im voraus. Und das einzige entscheidende Ziel ist, kaputt zu sein. Fertig zu sein und mein Soll erfüllt zu haben. Wozu? Um am Ende auf dem Grabstein stehen zu haben, dass ich wenigstens eine gute Läuferin war? Nein.

Ich belege jetzt den Aufbaukurs des Laufseminars: Vom Marathonfinisher zum Couchpotato. Von 42,153 km auf 0 km. Dafür muss ich noch nicht einmal Geld ausgeben. Nein, ich bekomme einen 40.000 Euro schweren Urlaub in dem wunderschönen Kurort Bad Kissingen geschenkt.

Ich fange mit dem schönsten Ritual am Morgen an. Endlich traue ich mich runter zu gehen in den Speiseraum. Morgens um 6:45 Uhr. Alles schläft noch. Keine Menschen auf dem Gang. Ich laufe rein und frage – ganz mutig – nach Kaffee. Und die Küchenfrauen lächeln mich an und wünschen mir einen guten Morgen. Und ich bekomme Kaffee. Setze mich zurück in mein Bett. Was ein Erfolgserlebnis. Und… schreibe Tagebuch. Nun kann der Tag beginnen. Dieses Ritual soll sich die nächsten Wochen nicht ändern. Außer montags. Beschissener Montag. Da darf ich vor 7.30 Uhr nichts trinken, weil ich mich nach dem Anziehen sofort wieder ausziehen muss und gewogen werde.

Tag der Stille. Wieder so eine heile Welt Idee. Na ja. 7 Uhr ist Einführung in die Stille und ich schlafe fast ein. Ich hab derbe Kopfschmerzen. Ein Therapeut spielt gefühlte stundelang irgendeine Melodie. Soll das toll sein am frühen Morgen? Danach gehe ich wieder ins Bett und schlafe weiter. Insgesamt schlafe ich 4 Stunden an dem Tag. Aber die Stille tut gut. Kein Smaltalk. Herrlich.

Intensivwoche: Das kann ich ja noch mitmachen. Kurz aufarbeiten und dann gehe ich aber wirklich nach Hause. Traumwerkstatt und weiter aufdeckend arbeiten hört sich doch gut an. Okay, eine Woche möglichst wenig Außenkontakt, keine Zeitung, kein Internet, kein Fernsehen und kein Telefon. Schon am ersten Tag bekomme ich eine unglaublich Lust, endlich nach 7 Wochen wieder Zeitung zu lesen. Was ein Zufall…

Ich träume verwirrende Sachen, schreibe aber alles brav direkt nach dem Aufwachen auf. In den Gruppen wird das Thema dann doch deutlich sichtbar. Gott im Himmel, ich vermisse Mama. Ich habe so eine starke kindliche Sehnsucht. Und was machen die Deppen damit am Nachmittag?? Eine volle Stunde soll ich meinen Traum tanzen?!? Wie bekloppt ist das den bitte… Können wir uns wenigstens ein bisschen wie zivilisierte, vernünftige Menschen verhalten und unseren Schaden nicht auch noch unterstreichen? Ich streike!!! Da mach ich nicht mit! Am ersten Tag kommt im 5 Minuten Takt ein Therapeut nach dem anderen zu mir und fordert mich auf, mitzutanzen. Ich verweigere mich. So wie die selbst tanzen, will ich auch gar nicht wissen was die träumen. Und in Wahrheit kann ich einfach nicht. Ich kann mich nicht so vor einer Gruppe öffnen. Mein Körper traut sich einfach nicht. Auch wenn ich es versuche, er bewegt sich kein Stück.

Nach der Woche hat mir meine Therapeutin richtig verboten mich weiter aus meinem Schutzraum raus zu bewegen. Wenn ich nicht über Grenzen gehen will, dann darf ich das jetzt auch offiziell nicht. Mindestens eine Woche lang, um quasi genau zu spüren, wo meine Grenzen sind. Ich bin erleichtert. Danke. Keine Veränderung mehr. Kein immer wieder mit ganz viel Mut der scheiß großen Angst begegnen. Ein Woche Pause. Aber da hab ich wohl nicht mit der darauf folgenden Nacht gerechnet:

Ich wache mitten in der Nacht schweißgebadet auf. Ich habe geträumt, dass meine Bezugstherapeutin mich mitten ins Forum zieht und ich dort mit meiner ganzen Sehnsucht nach meiner Mama sichtbar werde. Mit Tränen in den Augen und einer stockenden Stimme erzähle ich von ihrer Kindheit, ihrem einfach nur lernintensivem Studium und dem Tod meines älteren Bruders. Sie war immer so alleine. Alleine mit ihrem Schmerz. War ja „die Starke“ in ihrer Familie. Der ganze Raum ist erfüllt von diesem Schmerz. Vielleicht habe ich ja ein Stück von Mama übernommen, um ihr nahe zu sein.

Okay, heute muss ich ins Forum gehen. Ich bin völlig fertig. Vor Nervosität komme ich gleich um. Es geht gar nichts mehr. Ich würde mir natürlich wünschen, dass Mama wirklich dabei ist. Ich stehe auf. Ein großer Raum. Hell. Unendlich viele Menschen sitzen in einem Kreis zusammen. Ich fange an zu zittern. Oh, Gott, was ist mit meinem Körper los. Ich laufe in die Mitte und sage meinen Namen. Mehr kommt nicht. Was ist mit meinem Körper? Warum reagiert er so hammer-stark? Ich gucke die Therapeuten an. Eine Therapeutin weint. Oh Gott! Was soll ich nun machen? Ich schaue an die Decke. Interessant, die Strahler hab ich vorher noch nie gesehen. Dabei bin ich jetzt schon so lange da. „Ich… vermisse… meine Mama. Ich hab eine so starke Sehnsucht nach ihr und es wird einfach nicht besser. Ich kann soviel weinen wie ich will, der Schmerz wird einfach nicht weniger. Der Schmerz bleibt. Da kann ich drehen und wenden was ich will. Ich wünsche mir, dass alle Frauen, die meine Mutter sein könnten, mich einfach nur in den Arm nehmen. Einfach nur so. Weil ich ihr Kind bin.“ Und dann steht sofort eine Frau auf und kommt auf mich zu. Und dann ganz viele Frauen. Eine ist so groß wie Mama. Die andere riecht fast genauso wie sie. Bei der nächsten bin ich froh, dass sie definitiv nicht meine Mutter ist…

Viele wollen jetzt meine Mutter sein und doch weiß ich ganz genau, wer eigentlich meine Mutter ist. Und sie ist nicht da. Es gibt einfach keine Ersatzmutter. Es gibt nur die eine richtig coole, warme Mutter.

Ein bisschen ist das hier auf Pseudo-Gequatsche gemacht. Als könnte man seine Kindheit nachholen… What a fuck. Aber ich bin erleichtert. Ich hab der Welt gesagt, wohin eigentlich meine Sehnsucht geht.

Ich habe Angst. Die Therapeuten freuen sich, weil ich wie neugeboren bin und ich find diesen Zustand einfach äußerst anstrengend. Ich liege nach der Kerngruppe unter meiner Bettdecke und traue mich nicht in den Speisesaal. Viel zu viele Menschen, die irgendwie kreuz und quer durch die Gegend laufen und mich wohlmöglich noch ansprechen. Ich rappele mich dennoch irgendwann auf und gehe zur Atemtherapie. Heute wollte ich ja einen befreundeten Mitpatienten begleiten. Warum fängt er denn an zu weinen? Ich fühle mich so offen, dass ich einfach mitweinen muss. Er weint und ich muss weinen, weil er weint…

Und dann kommt der Schmerz hoch. Mit all seiner Kraft und puren Gewalt. Wie gut, dass ich mit einer Mitpatientin noch besprochen habe, vor dem Wochenend-Trip nicht abzuschmieren. Sonst wird er nachher nicht mehr genehmigt. Mittwoch war ein Feiertag und wir waren Kanu fahren. Nur zwei Tage durchhalten und das Wochenende ist gesichert. Haha haha. Donnerstagmorgen 8.30 Uhr: Lebensführung. Ein Rückblick der Woche (wie jeden Donnerstag). Ich fange an zu weinen. Mein ganzer Oberkörper verkrampft sich. Alles tut weh. Der anwesende Therapeut  ist wohl unfähig, mit Patienten, die weinen, umzugehen und ich erkläre ihm kurz, was jetzt gut für mich wäre. Ich soll im Raum bleiben… okay… ist sowieso für längere Zeit das letzte mal, dass ich anwesend bleibe. Ich mummele mich in Decke und Kissen und setzt mich an die Seite und weine und weine und weine. Wird der Schmerz irgendwann mal weniger? Ich glaube kaum! Ich gehe in mein Zimmer und leg mich unter die Decke und weine weiter. Ich geh zum Mittagessen und weine weiter. Und dann schleppt mich eine Mitpatientin zu meiner Bezugstherapeutin. Als ich sage, dass ich ziemlich durch den Wind bin, kommt eine liebevolle Umarmung und der Kommentar: „Aber das ist doch schon seit einer Woche so“. Sie stellt mich für die Nachmittag frei, gibt mir den Auftrag mich zu erden und noch ein Notfalleinzel. Ich setz mich und fange an sie voll zu labbern. Sie: „Ich würde Sie echt gerne in den Arm nehmen“. Ich schaue sie ziemlich verwirrt an. Was für ein qualifizierter Beitrag ist das denn nun? Höheres Semester Psychologie? Also rede ich weiter. Ich brauch ja schließlich eine Lösung für mein Problem. Als ich alles gesagt habe, schaue ich sie wieder an und fordere sie mit meinem Blick auf: „Ihr Part, Frau Therapeutin. Zeigen Sie mir was sie können. Aber bitte ein Antwort mit mindestens 10 Fremdwörtern, damit ich ein Qualitätsmerkmal erkenne.“ Wiederum folgender Kommentar: „Ich würde Sie wirklich einfach gerne nur in den Arm nehmen.“ What the fuck? In den Arm nehmen? Mich? Warum? Ich wünsche einen fundierten Gesprächsbeitrag und sie will mich in den Arm nehmen. Ich versuche mich abzulenken, aber alle Bilder und Postkarten in diesem Raum kenne ich schon in- und auswendig. Okay… was soll’s. Tue ich ihr den Gefallen.

Und dann das: Wieso kann sie so verdammt gut umarmen? Sie streicht mir durch den Nacken und umarmt mich wie eine Mutter. Und dann kommt der ganze Schmerz wieder hoch. Ich muss wieder so arg weinen. Jetzt weiß ich ganz genau, was ich eigentlich die ganze Zeit wollte. Und sie sagt einfach „Oh, dass war dann jetzt noch nicht genug“ und umarmt mich wieder. So lange wie ich möchte. Sie ist etwas kleiner als Mama und hat natürlich auch nicht Mamas Eigengeruch. Aber sie will gar nicht, dass ich irgendwas mache oder tue. Sie will mich einfach nur umarmen. Mich als Mensch.

Körpertherapie: Plötzlich klingelt mein Telefon. Das hat es in den letzten Wochen doch nicht getan. Und ich bekomme ein Körpereinzel. Wow… okay, vielleicht steckt hinter allem doch ein Konzept… Sie schließt die Tür ab und hängt ein Schild vor die Tür. Die Gardinen werden zugezogen und wir beiden sind wirklich geschützt und ganz alleine. Ich fange an zu tanzen. Jep. Das kann ich auch :-) Aber meine Beine sind ganz steif. Als würden sie nicht mir gehören. Ich lege mich hin. Die Körpertherapeutin massiert meine Beine. Ich merke, dass es gar nicht meine Beine sind. Sie gehören Mama. Mama, konnte vielleicht nie richtig befreit tanzen? Sie nimmt mich in den Arm und ich fange an zu weinen. Sie hält mich wie ein Baby. Ich kann nicht mehr aufhören. Zwischendurch höre ich „Ich bin da“. Und „Atmen“ und nach einer Stunde ist natürlich die Stunde vorbei. Terminplan muss eingehalten werden.

Und dann kommt Mama doch. Heute kommt Mama. Ich freue mich darauf, sie einfach ganz fest in den Arm zu nehmen. Tatsache ist, dass sie extra eine weiten Weg auf sich nimmt. Nach ihrem Gesangsunterricht. Warum sind Termine bei ihr immer wichtiger? Ich meine, ich war dem Tod so oft näher als dem Leben, aber kurz vorher kam noch eine Yogastunde. Ist es ihre Überlebensstrategie?

Aber dann… Das Gespräch mit Mama war so gut! Diadenarbeit. Nur einer darf sprechen für 5 Minuten. 3 Fragen wurden gestellt: 1) Was magst du an mir? 2) Was findest du schwierig in der Beziehung zu mir? 3) Was wünscht du dir von mir? Ich hab einfach nur geweint. Da sitzt meine Mama vor mir. Ich muss ihr nichts beweisen. Ich muss nicht schlau tun. Ich muss nicht tun als hätte ich alles schon im Griff. Ich bin gerade einfach da. So wie ich bin. Und weine. Weine, weil ich so glücklich bin. Sie sieht mich. Und sie hat mich doch die ganze Zeit gesehen. Sie hat alles mitbekommen. Wie süchtig ich war. Wie verzweifelt. Wie viel ich gelogen habe. Wie zweigeteilt ich bin: Ich oder die Sucht. Sie hat doch alles mitbekommen. Und ich hab mich immer so aufgeregt, weil ich dachte, dass das wichtigste sei die Scheinwelt zu wahren.

Eine Therapeutin kommt und streicht mir durch den Rücken während sie eine neue Tempotaschentücherpackung hinstellt. Tut das gut. Mama fragt, ob es mir jetzt peinlich sei zu weinen. Nein, wie denn? Ich bin doch im siebten Himmel. Sie sieht mich und nimmt mich so wie ich bin. Sie will vielleicht doch gar keine andere Tochter. Ich hab immer gedacht, sie wolle eine die angepasster ist. Die einfach normal ist.

Ich bin völlig zufrieden ausgelaugt nach der Arbeit. Und dann passiert etwas, womit ich absolut nicht gerechten hätte. Mama will gar nicht sofort fahren, sondern noch einen Kaffee mit mir trinken gehen. Wir gehen ins Seniorenkaffee am Platz. Oh, Mövenpickeis. Ich bestelle einen Nuss-Becher. Waasss? Einen ganzen Becher Eis??? Ja! Und er tut so gut  einfach. What the fuck sind Kalorien in dem Moment. What the fuck ist eine Essstörung in dem Moment. Ich genieße und Mama gleich mit. Mir ist in dem Moment der Stabilität halber schon wichtig, dass ich dazu eine Cola light trinke. Sie nimmt einen Cappuccino, streut den Zucker drüber und isst ihn zusammen mit dem Milchschaum runter. Ordnung muss sein. Mama, ich hab dich unglaublich lieb und es gibt eben definitiv keinen Ersatz für dich. Egal, wie sehr sich Frau Heitgerken oder sonst wer anstrengen!

Dann ist Mama aber wieder weg und Therapie ist und bleibt anstrengend. Ich will Urlaub. Alles ist einfach nur anstrengend. Sogar die Rentner überholen mich inzwischen schon auf der Rolatoravenue. Seit beide – meine Bezugstherapeutin und meine Körpertherapeutin – im Urlaub sind, ist alles einfach scheiße. Ich zittere nur noch. Nein, ich trinke in der Klinik nicht jeden Abend eine Flasche Wodka. Trotzdem zittere ich als ob. Immer, den ganzen Tag zittere ich. In Urlaub gehen ist ja rational völlig in Ordnung. Aber ich fühle mich verlassen. Man, ihr beiden durftet mich gerade umarmen und dann geht ihr einfach.

Ich laufe nur noch panisch durch die Gegend. Ich traue mich nicht mehr alleine ohne eine andere Hand zum anfassen in die Stadt. Ich fühle mich völlig überfordert und völlig schutzlos. Lese ich Zeitung, bekomme ich Angst: Um der Finanzkrise zu begegnen, muss Europa stärker zusammen arbeiten. Vielleicht sogar zusammen wachsen. Dann ja auch auf kultureller und sozialer Ebene. Aber wozu dann noch einen Nationalstaat? Ist es dann nicht einfach ein Europa mit unterschiedlichen lokalen Kulturen. Aber wozu dann noch eine Nationalmannschaft? Wozu dann noch Europameisterschaften? Was wird, was ist, alles scheint so unsicher. Wo ist meine Höhle? Wo ist denn diese scheiß Sicherheit? Okay, erstmal Zeitungsleseverbot!

Aus fast jeder Gruppentherapie gehe ich raus. Menschen, die wütend oder aggressiv sind, kann ich nicht ertragen. Nur ein Kommentar, gar nicht an mich gerichtet und ich habe das Gefühl, Schwerter fliegen auf mich zu. Nacht für Nacht habe ich Alpträume. Panik. Hände fliegen auf mich zu. Ich bin noch ganz klein und hilflos. Ein Baby. Und kein Schutz. Brutal kann mich alles treffen. In den Kerngruppensitzungen darf ich leider nicht raus gehen. Gott, können 100 Minuten lang sein! Alles tut so weh. Ich hab soviel Angst. Liege außerhalb des Sitzkreises unter einer Wolldecke und Frau Heitgerken hält meine Hand. Und ich zittere.

Mehr und mehr merke ich aber, dass es mit vertrauten Menschen an der Hand oder unter der Decke wenigstens soweit geht, dass ich wieder länger in den Therapie sein kann. Immer weniger muss ich raus gehen. Gott, dieser Prozess hat aber auch Wochen gedauert! Hoffentlich finde ich auch in der Draußen-Welt immer wieder Möglichkeiten, mich geschützt wie in einer Höhle zu fühlen.

Zweiter Tag der Stille. Aha, das kenn ich ja. Meine liebste Mitpatientin ist seit einer Woche einfach komplett am abschmieren. Ich hab die Gunst der Stunde genutzt und bin nicht mehr zum Frühstücken gegangen. Meinen Kaffee bekomme ich ja eh und dann hab echt einfach mehr Zeit. Das ist morgens immer so ein Stress. Nette Ausreden denkt sich meine Essstörung aus.

Wieder habe ich Kopfschmerzen. Wir sollen in der Gruppentherapie irgendwas malen. Ich hab kein Bock und will gehen. Und dann male ich mein Leben. Kunterbunt. Und lege mich schlafen. Okay, dann eben im Gruppenraum ;-) Nachmittags fange ich im Bett an zu akzeptieren, dass ich krank bin und so auch entlassen werde. Ich kapiere, dass ich als Kind schwere, traumatische Erfahrungen gemacht habe. Und damit immer wie behindert durchs Leben gehen werde. Ich werde nie so leistungsfähig sein können wie Papa. Ich werd immer mal wieder einfach nicht können. Und die Kopfschmerzen werden weniger.

Meine liebste Mitpatientin klopft an die Tür und zeigt mir einen Zettel  mit „Mc Donalds“. Es soll ihr Durchbruch sein. Was so ein Fast-Food-Restaurant alles schafft.

Wir treffen uns mit der Kerngruppe und meinem Bezugstherapeuten und gehen zum Fluss. Es fängt an zu regnen. Nein, dass ist ein glatte Untertreibung. Gott öffnet die Schleusen. Eine Mitpatientin legt ein bemaltes Stück Rinde auf den Fluss und spricht von ihrem nicht geborenen Kind. Wir stehen eng im Kreis und alle weinen… Danach rennen wir zurück. Ich stehe unter der Dusche und weine. Weine, weil ich so lange nicht gelebt habe. Ich schau tief in den Spiegel und weine. Ich verzeihe mir. Ich verzeihe mir für alles, was ich mir angetan habe. Ich möchte so gerne einfach leben.

Thema Abschied in der Kerngruppe: Bald verlassen uns zwei Mitpatienten, die auch sehr lange hier waren. Aber es ist langweilig. Ach, dass weiß man doch bevor man in die Klinik geht, dass das hier nicht das wahre Leben ist. Kaum einer meldet sich zu Wort. Haha, es ist ein bisschen als hätten wir uns kollektiv abgesprochen, uns unseren eigenen Rahmen für völlige Gefühlsausbrüche zu suchen.

Plenum am nächsten Tag: Alle anderen Patienten verabschieden sich ohne großes Aufsehen. Aber bei meinen beiden Kerngruppenmitgliedern fängt die Kerngruppe kollektiv an zu heulen. Im Abschied wird die Bedeutung und die enorme Tiefe, die wir zusammen erlebt haben, sichtbar und spürbar. Da durften wir Coolen ganz klein sein. Bedingungslos wurden wir genommen. Mit allem Schmerz. Mit all der Scheiße, die wir durch Alkohol, Drogen, Essstörung, Abbrüchen von Studium oder Ausbildung schon verzapft haben, sein. Es darf einfach alles sein in Heiligenfeld. Alles. Bedingungslos. Und das ist nicht die Realität. Denn hier werde ich einfach in den Arm genommen, wenn ich weine. Hier muss ich gar nichts sagen. Hier nehme ich mir eine Hand, wenn ich Angst habe. Hier muss ich nicht erklären, warum.

Meine liebste Mitpatientin verabschiedet sich. Ich geh mit in ihr Plenum. Sie steht auf und fängt an zittrig im Kreis zu laufen. Ja, sie scheint immer so cool. Aber sie hat auch viel, viel Schmerz in sich. Eigentlich war sie aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung in der Klinik. Aber dann hat sie gemerkt, dass sie noch tausend andere Baustellen hat. Eigentlich haben alle immer ihr Unnahbar-Band gesehen. Ich nicht. Ist für mich wohl unsichtbar.

Heute fahre ich schon mal kurzzeitig nach Hause. Ich komme viel zu spät zum Frühstück. Meine liebste Mitpatientin ist fast schon fertig. Ich bin schon vor dem Essen fertig. What a fuck. Ist sie dann für immer weg? Halten Beziehungen, die in der Klinik entstanden sind? Sie ist mir so wichtig. Ich hab sie so gern. Ich hab sie schließlich in meine Höhle gelassen.

Ich stehe auf im Plenum zur Verabschiedung. Die Patientin vor mir war 4 Wochen da. Aha. Meiner Kerngruppe geht’s nicht so gut. Sie sitzen unter Decken gekauert da. Ich stell mich in die Mitte und fange (natürlich) an zu zittern. Geh ja schließlich geheilt aus der Klinik, wie die Frau vor mir. Ich kenne die Leute inzwischen hier kaum noch. Erstmal fixiere ich die Oberärztin, um mich zu beruhigen. „Ich war nun – wenn ich mich nicht verrechnet habe – 18 Wochen hier. Ich gehe nicht gut. Ich habe sehr viel Angst. Aber man kann ja nicht ewig in der Klinik bleiben. Na ja, ewig schon, aber nicht ewig ewig… Ich brauchte sehr lange um mich immer mehr zu öffnen. Und dann stand ich da mit meiner ganzen Angst, meiner Sehnsucht und meiner Traurigkeit. Jaaa….Und dann haben mich Menschen genau dann einfach genommen wie ich bin. Ich habe Menschen ganz nah an mich heran kommen gelassen und dadurch so was von verdammt heilsame Erfahrungen gemacht.“

Ganz herzlichen Dank für das Teilen dieses Klinikberichts!

Welche Gemeinsamkeiten hat sie mit deiner Geschichte und wann schickst DU mir DEINE?

lebenshungrige Grüße

Simone