Gibt es die eine, gesunde Ernährung für uns alle?
Kathrin hat mir kürzlich den Link zu einem sehr interessanten Interview mit dem Lebensmittelchemiker Udo Pollmer geschickt. Titel des Artikels in der Zeit online ist „Der Appetit ist die moderne Erbsünde“. Pollmer ist wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften in München. Er ist Autor diverser Bücher und er polarisiert häufig mit seiner Meinung. Mir war er bisher völlig unbekannt. Was wiederum zeigt, wie wenig ich mich in den letzten Jahren aktiv mit dem Thema gesunde Ernährung beschäftigt habe…
Herr Pollmer ist der Meinung, dass wir glücklicher, gesünder und genussvoller leben könnten, wenn wir uns von der Vorstellung verabschieden würden, es gäbe DIE EINE gesunde Ernährung für alle. Nun kann ich selbst gar nichts zu den bio-chemischen Reaktionen unseres Körpers auf gewisse Lebensmittel sagen. Denn darüber weiß ich so gut wie gar nichts. Was ich aber von mir selbst weiß und auch seit vielen Jahren an anderen beobachte, sind die psychischen Auswirkungen die das Thema gesunde Ernährung auf viele von uns hat.
Ich gehe mal davon aus, dass jemand, der sich ausschließlich von Zucker und Weißmehlprodukten ernährt, seinem Körper damit auf Dauer keinen Gefallen tut. Aber ich gehe auch davon aus, dass jemand, der auf gesunde Ernährung achtet, aber trotzdem ständig Druck und ein schlechtes Gewissen hat – egal weshalb – seinem Körper damit auf Dauer ebenfalls schadet. Pollmer dazu: “Wenn ich ständig unter Druck bin, dann habe ich eine erhöhte Cortisolproduktion, und das ist der Grund, weswegen gerade mit dem Bauchspeck verschiedene Krankheiten wie z. B. Infarkt korrelieren. Das heißt aber nicht, dass sie vom Speck herrühren, das ist Unsinn, sondern weil alles eine gemeinsame Ursache hat: Ärger, Wut, Verzweiflung.“
Gesunde Ernährung ist individuell
Ich plädiere dafür, viel mehr auf den eigenen Körper zu hören, ihm zu vertrauen und nicht ständig dem neusten Ernährungstrend hinterher zu rennen. „Die Neigungen der Individuen sind naturgemäß unterschiedlich.“ Und „Der Stoffwechsel der Menschen unterscheidet sich, wir sind genetisch viel unterschiedlicher, als viele glauben“ sagt Pollmer dazu. Und er erläutert es an folgendem Beispiel: “Viele Mütter versuchen ihren Kindern Obst einzuflößen. Das eine Kind freut sich über sauere Beeren im Jogurt und will das jeden Tag. Das andere isst höchstens eine halbe Banane pro Woche. Die eine Mutter ist beigeistert über ihr kluges Kind, die andere verzweifelt, weil das Gör nicht hören will. … Das Verhältnis eines Kindes zu Obst hängt primär mit seiner Magensäure zusammen. Ein Kind, das sehr wenig Säure produziert, braucht die saueren Sachen, um in der Frühe in Schwung zu kommen. Und einem Kind, das viel Magensäure produziert, würde dieses Beerenzeug ein Loch in den Magen brennen, es lehnt das Zeug also vollkommen zu Recht ab.“
Ich habe hier schon häufiger geschrieben, dass mein Wunsch während der Essstörung war, wieder so zu essen, wie Kinder essen. Und genau so esse ich heute auch. Ich weiß, dass mein Körper schlauer ist, als sämtliche Experten für gesunde Ernährung. Manchmal habe ich Lust auf Spinat, Salat oder auch Schokolade. Und dann esse ich auch genau das. Manchmal, gerade wenn ich unterwegs bin, esse ich eben das, was es gerade gibt. Ich habe das Gefühl, dass wir aus dem Thema gesunde Ernährung in Verbindung mit dem Schönheitswahn geradezu eine neue Religion geschaffen haben. Damit hat das Thema Essen einen viel höheren Stellenwert in unserem Alltag als nötig. Wir haben das große Glück, in einem Land zu leben, in dem es Lebensmittel im Überfluss zu bezahlbaren Preisen gibt. Aber anstatt uns darüber zu freuen und unseren Körper zu geben, was er braucht um uns dann wieder anderen Dingen zuzuwenden, teilen wir – je nach Ernährungsguru – Lebensmittel in „gut“ und „böse“ ein und schon beginnt das Dilemma.
Schlechtes Gewissen und gesunde Ernährung
Ein weiteres Beispiel aus meinem täglichen Leben: Einige Freunde meiner Kinder bekommen zu Hause wenige oder gar keine Süßigkeiten. Und genau diese Kinder sind total scharf auf Schokolade, Gummibärchen und Co. Kürzlich fragte eines dieser Kinder „Dürfen wir etwas Süßes haben?“ Und ich sagte: „Ja, holt euch etwas aus der Speisekammer.“ Durch die halbgeöffnete Tür beobachtete ich dann Folgendes: Mein Sohn nahm sich einen Lutscher, das andere Kind nahm sich einen Lutscher, steckte ihn schnell in die Hosentasche und nahm sich dann noch einen Lutscher zum essen. Und ich frage mich: Was hat langfristig gesehen negativere Auswirkungen auf Psyche und Körper dieses Kindes: Der Zucker im Lutscher oder das Wissen, dass es „etwas Verbotenes“ getan hat?
Und genau so ist es doch bei Erwachsenen die ständig denken: „Ich müsste dringend 5 Kilo abnehmen“ oder „Ich sollte mehr Obst und Gemüse essen.“ oder „Eine gesunde Ernährung sollte absolut zuckerfrei sein.“
Auch beim Thema Essstörungen kommt der Zucker immer wieder zur Sprache. Und manche meinen, dass ihre Essstörung nur verschwindet, wenn sie keinen Zucker mehr zu sich nehmen. Zucker hat natürlich Auswirkungen auf unseren Körper. Aber wie wir im o. g. Beispiel mit dem Cortisol gesehen haben, sind die Auswirkungen von unterdrückten Gefühlen nicht geringer. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir der Zucker alleine nichts anhaben kann, solange meine Psyche stabil ist.
Frauen und gesunde Ernährung
Ich würde nicht so weit gehen wie Pollmer, der sagt „Ernährungsberatung wird von Frauen ausgeübt und dient dazu, namentlich Frauen zu destabilisieren, ja sie fertigzumachen. Es ist Gewalt von Frauen gegen Frauen.“ Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir – getrieben vom Schönheitswahn – als Gesellschaft immer dicker und/oder kranker werden obwohl das Thema gesunde Ernährung immer mehr Raum in unserem Leben einnimmt.
Gesunde Ernährung bedeutet für mich, weitgehend auf die Bedürfnisse meines Körper zu hören und sie zu erfüllen. Mein Körper ist z. B. kein Frühstücker. Obwohl ich gegen 7.00 h aufstehe, esse ich meistens erst zwischen 10.00 h und 11.00 h. Dafür esse ich abends häufig etwas Warmes und danach noch etwas Süßes. Ein Verhalten, dass so manchem Ernährungsberater Schnappatmung bescheren würde. Aber mir geht es sehr gut damit. Ich bin weder dick, noch krank und ich habe auch kein schlechtes Gewissen. That’s it! Ich weiß, dass viele von euch verlernt haben, auf eure Körper zu hören. Aber das könnt ihr auch wieder erlernen!
Wie viel mehr weibliches Potential würde uns als Gesellschaft zur Verfügung stehen, wenn wir nicht ständig – vom schlechten Gewissen geplagt – mit unserem Aussehen und der sogenannten gesunden Ernährung beschäftigt wären?
lebenshungrige Grüße
Simone