“Flucht, Abhängigkeit und Selbstwertgefühl”
“Ich brauchte lange, um mich durchzuringen, habe es aber nun doch getan. Ich weiß nicht, ob du mit meiner Geschichte etwas anfangen kannst. Oftmals sind sie ja doch sehr ähnlich und ich weiß nicht, in wie weit ich da einen nützlichen Beitrag geben kann. Nichts desto trotz: Vielleicht ja doch.
Liebe Grüße und ein ganz herzliches Dankeschön für deine Seite.”
Mit diesen Worten hat mir eine von euch ihre Geschichte geschickt. Und ich möchte es dir, liebe Verfasserin, und euch anderen allen hier noch mal öffentlich mitteilen:
Jede Geschichte zählt!
Denn auch wenn es viele Gemeinsamkeiten gibt, so macht eure Persönlichkeit und eure Art des Schreibens jeden Bericht einzigartig wertvoll. Und vielleicht ist es gerade deine Geschichte, die einer anderen Betroffenen die Augen öffnet…
(D)eine Geschichte
Ich denke, ausnahmslos alle Geschichten von Essgestörten sind sehr komplex und vielschichtig. Ich mag daher nicht jede Einzelheit meines – nun ja – „ Werdegangs“ erläutern, sondern mich lediglich auf die Bereiche beschränken, welche ich heute als bedeutend erachte.
Ich bin 22 Jahre alt und seit so ziemlich genau 10 Jahren begleitet mich meine Essstörung. Und das ist noch heute so: abwechselnde Phasen von Hungern und Erbrechen. Rückblickend erkenne ich die drei Themen, welche dabei besonders kennzeichnend waren: Flucht, das Problem der Fremdbestimmung bzw. Abhängigkeit und das Problem mit dem Selbstwertgefühl. So möchte ich meine Geschichte eher thematisch, statt chronologisch aufbauen:
Flucht
Ich entdeckte ziemlich früh, dass es hilft, sich den Finger in den Hals zu stecken, wenn man schlechte Gefühle hat. Wie ich darauf kam, weiß ich heute leider nicht mehr. Das war mit 12. Als ich älter war, so um die 15 oder 16 Jahre, erinnerte ich mich wieder daran, als zu Hause die Hölle los war und ich zudem großen Druck in der Schule empfand. Meine Mutter trank sehr viel, ich wurde oft angeschrien und hatte die üblichen Probleme, welche Kinder in Familien haben, wo die Verhältnisse eher instabil sind. Da ich mit niemandem darüber reden konnte bzw. mich nicht traute, war es für mich eine große Hilfe zu essen und dann zu erbrechen. So war ich immerhin eine ganze Weile abgelenkt und irgendwo anders – nur nicht in der Realität. Ebenso Diät halten, Hungern, andauernd die Kalorienbilanz des Tages vergegenwärtigen- das war damals meine Zufluchtsmöglichkeit.
Später dann, als ich schon mit meinem Freund zusammenwohnte, waren meine Probleme andere, die Lösung aber immer die gleiche. Sei es nun Stress bei meinem Freiwilligen Jahr, Zukunftsängste, Streitereien mit meinem Freund. Und meine Mutter, welche aus ihrer eigenen Hilfsbedürftigkeit und -losigkeit heraus viele ihrer Sorgen noch immer auf mich abwälzte. Unser Mutter- Tochter- Verhältnis war irgendwie schon in meinen Kindheitstagen vertauscht und ich hatte große Schwierigkeiten mich von ihr emotional abzugrenzen.
Fremdbestimmung bzw. Abhängigkeit
Ich empfand mich schon immer als hässlich und zu dick. Sehr fest verwurzelt war vor allem eines: das Gefühl des „Anders-Seins“. Meiner eigenen Wahrnehmung konnte ich nie so wirklich vertrauen. Meine Mitmenschen schienen so viel anders zu sehen als ich. Diese Erfahrung machte ich besonders in der Familie und in den ersten Schuljahren. Als ich das erste Mal durch einen Wachstumsschub schlanker wurde, bekam ich plötzlich Komplimente und wurde von Jungs beachtet. Als ich noch mehr abnahm, weil ich alles dafür tat, machte sich meine Mutter Sorgen. Diese Aufmerksamkeit empfand ich als sehr wohltuend. Als ich wieder zunahm (was für mich selbst ein großes Versagen darstellte), spürte ich wiederum den kritischen Blick meiner Mutter. Als ich wieder abnahm, das gleiche Spiel wie zuvor. Ich denke, die logische Verknüpfung, die sich bei mir verfestigte, ist ersichtlich. Sei es nun Hungern oder Erbrechen – so sehr ich vor allem letzteres hasste – ich konnte nicht anders. Zu sehr groß war die Angst vor dem Urteil der anderen. Die Vorstellung, jemand Fremdes könnte mich sehen und denken: „Sie hat einen großen Po“, war für mich das allerschlimmste, was denkbar war. Ab einem bestimmten Alter konnte ich das System meiner Denkweisen, deren Falschheit und Schädlichkeit entlarven, die Abhängigkeit blieb dennoch bestehen. Selbstbestimmt durch das Leben zu gehen war für mich schier unmöglich, einfach deshalb, weil ich nie wusste, wie. Stattdessen blieb es bei der Fremdbestimmung durch Freunde, meine Mutter oder die Waage.
Selbstwertgefühl
Nach mehreren Klinikaufenthalten und Therapien, welche nicht allein durch meine Essstörung begründet waren, erkannte ich schnell, was ich aufbauen musste, um mich von dieser Fremdbestimmung zu lösen: Selbstwertgefühl. Ich musste in gewisser Weise viel nachreifen und nacharbeiten, weil ich – die Gründe mögen sein, wie sie wollen – nicht angemessen auf das Leben vorbereitet war und mir viel fehlte. Ich musste bitter erfahren, wie wichtig es ist, Grenzen zu setzen, “Nein” sagen zu können, Lob anzunehmen und vor allem: Bedürfnisse zu äußern.
Eine wichtige Etappe war dabei der Beginn meines Studiums: eine Entscheidung nicht zugunsten finanzieller Sicherheit sondern zugunsten meines Herzens. Auch lebe ich in einer stabilen Beziehung und empfinde mein Verhältnis zu meiner Mutter mittlerweile als recht reif. Flüchten müsste ich eigentlich gar nicht mehr.
Das berühmte „Loslassen“ fällt mir jedoch sehr, sehr schwer. Ich weiß gar nicht, wie ein Leben völlig ohne Essstörung sein soll. Die Zeiten nämlich, in denen ich sie gut im Griff hatte, fühlten sich so extrem komisch an. Ich hatte das Gefühl, in der Luft zu hängen und völlig ohne Halt zu sein. Ich bin nun noch am üben, glaube aber mittlerweile tatsächlich, dass ich es schaffen kann, irgendwann wirklich gut mit mir umzugehen, da ich nun als etwas „erwachsenerer“ Mensch manchmal erkennen kann, dass ich gar nicht so anders bin. Beziehungsweise dass es gar nicht so schlimm wäre, da ich dennoch Liebe erfahre, Verantwortung übernehmen kann und eigene Entscheidungen treffe. Eine stärkende Erfahrung war ebenfalls die Erkenntnis, dass ich durchaus enorme Selbstheilungskräfte besitze und, was meine Genesung betrifft, nicht so sehr abhängig von konkreten Menschen bin.