Schuldig, stumm und selbstzerstörerisch? Ent-schuldige das hungrige Mädchen!
“Eigentlich war meine Kindheit ganz okay” ist ein Satz, den ich schon sehr häufig von MindMates gehört habe. Das entscheidende Wort ist “eigentlich”. Denn es weist darauf hin, dass es in der Vergangenheit dieser Frauen Ereignisse gegeben hat, die eben nicht okay waren.
Nicht wenige MindMates haben körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Doch die meisten haben “nur” eine Vielzahl an “kleinen” emotionalen Verletzungen erlebt, die in der Summe zu einer großen seelischen Wunde geführt haben. Und eine andere Bezeichnung dafür ist (Entwicklungs)Trauma.
Oder – wie der Psychiater Bessel van der Kolk es zusammengefasst hat – “Trauma ist, wenn wir nicht gesehen und verstanden wurden”. Das zeigt sich in dem kleinen Mädchen mit dem hungrigen Loch im Bauch und dem schuldigen Druck auf der Brust, das in allen MindMates existiert.
“Trauma ist nicht das, was uns zugestoßen ist, sondern das, was aufgrund des Ereignisses in uns vorgeht”, erläutert der Arzt Gabor Maté. Und das erklärt, warum Ereignisse für manche Menschen traumatisch gewesen sind und für andere nicht. Denn was in uns vorgeht, hat auch etwas mit unseren (geerbten) Charaktereigenschaften, vor allem mit unserer Sensibilität, zu tun.
Die Last der Schuld
Das Schwierige daran ist, dass fast alle MindMates versuchen, rückblickend aus kleinen Verletzungen keine Verletzungen zu machen. Sie tun das, indem sie Erlebnisse relativieren oder den Verursacher zu erklären oder zu entschuldigen versuchen.
“Das ist jetzt schon so lange her und Papa hatte damals halt öfters mal einen schlechten Tag, weil sein Job so stressig war”, maßregeln sich diese MindMates. “Warum bist du so empfindlich? So schlimm war es doch auch nicht! Das kann doch nicht der Grund sein, warum du heute noch immer so schrecklich unterwürfig bist!?” geht das Selbstgespräch oft weiter.
Häufig nutzen Frauen für ihre inneren Dialoge die Phrasen oder Sätze, die sie während ihrer Kindheit tatsächlich von Erwachsenen gesagt bekommen haben. All diese
- Das tut man nicht;
- Man macht XY so und so;
- Warum bist du nur so XY?;
- Wieso kannst du nicht sein wie XY?;
- Wann wirst du endlich begreifen, dass XY?;
- usw.
Die SelbstVerletzung
Die Loyalität eines Kindes gehört immer dem System, der Familie, dem Vater. Warum? Kinder wissen instinktiv, dass sie das System brauchen, um überleben zu können. Doch der Preis, den sie dafür zahlen müssen, ist, dass sie ihr Selbst, ihre Authentizität, automatisch unterordnen: “Der Vater darf/kann ja nicht falschliegen, also liege/bin ich falsch.”
Mit anderen Worten: Die Schuld für die Verletzung kann ein Kind nur bei sich selbst und nicht im System (in der Familie) suchen. Einerseits braucht das Kind das System um zu überleben. Und andererseits ist das Gehirn entwicklungstechnisch noch nicht so weit, dass es diese überlebenswichtige Entscheidung bewusst treffen kann.
Ein (Klein)Kind kann sich selbst nicht sagen, oder erkennen: “Okay, er ist schlecht gelaunt und lässt seinen Frust an mir aus. Aber weil ich ihn brauche, tue ich so, als wäre ich die Ursache für sein Verhalten.”
Der SelbstVerlust
Der (überlebens)notwendige Verlust des Selbst und der Verrat des Systems sind sehr schmerzhaft. Dieser “Ur-Schmerz” ist in unserem Körper gelagert. Und aus ihm heraus entsteht im Laufe der (Gehirn)Entwicklung der “Ur-Glaubenssatz”: “Ich bin nicht gut genug.” Das Gefühl war schon zu einer Zeit da, zu der wir noch nicht in der Lage waren, irgendetwas in Worte fassen zu können.
Nahezu alles, was wir ab der Pubertät tun, ist entweder der verzweifelte Versuch, den Schmerz nicht spüren zu müssen, in dem wir ihn – beispielsweise durch Kompensationsmethoden – betäuben. Oder der ebenso verzweifelte Versuch, Perfektion in Aussehen und/oder Leistung zu erlangen, um den Glaubenssatz zu widerlegen und den Schmerz loszuwerden.
Zu viele MindMates pendeln tagtäglich zwischen diesen beiden Versuchen. Nur um immer wieder zu scheitern und sich danach noch schuldiger und schlechter zu fühlen. Nur, um immer verzweifelter und erschöpfter zu werden. Sie kämpfen einen aussichtslosen Kampf, dessen Kriegsschauplatz der eigene Körper ist.
Äußerlich groß, innerlich klein
Ich kenne eine MindMate, nennen wir sie Elke, die von ihren Eltern enorm wenig Unterstützung erfahren hat und permanent ungerecht behandelt wurde. Vom Vater wurde sie außerdem mehrfach verbal und körperlich bedroht. Und die Mutter tolerierte sein Verhalten. Mittlerweile ist Elke über 50 Jahre alt und ihre Mutter ist bereits verstorben.
Und diese erwachsene Frau fährt brav jede Woche zu ihrem Vater, um zu putzen, zu waschen und im Garten zu helfen. Selbstverständlich wird ihre Mühe weder entlohnt noch belohnt. Sie bekommt keinen Dank, sondern Kritik.
Auf meine Frage, warum sie das tut, warum sie sich das antut, kam die kleinlaute Antwort mit der Stimme des Mädchens, das Elke einst war: “Er ist doch alleine, er braucht mich, denn er hat doch nur noch mich.”
Elke überträgt ihre Situation von früher auf seine Situation von heute. Denn für sie war es in ihrer Kindheit so: “Ich bin alleine, ich brauche ihn, ich habe doch nur ihn/sie (die Eltern).”
(Selbst)Schutz
In der unbewussten Hoffnung, ihren emotionalen Schuldenberg endlich loszuwerden, indem sie sich noch mehr anstrengt, besser wird – endlich gut genug – und dass er ihr das bestätigt, verletzt Elke sich jede Woche selbst, indem sie sich seinem Verhalten aussetzt.
Denn die Realität ist: Weil er nur noch sie hat, ist er jetzt abhängiger von ihr als umgekehrt. Elke könnte bestimmen, ob sie ihn überhaupt unterstützen will und falls ja, wie diese Hilfe aussieht.
Sie hätte jedes Recht und die Möglichkeit zu sagen: “Er tut mir nicht gut, also bleibe ich ihm fern und wenn er Hilfe braucht, soll er sie sich organisieren. “Doch diese theoretische Möglichkeit ist für Elke in der Praxis unmöglich. Denn das Schuldgefühl, das dieses Verhalten in ihr auslösen würde, erscheint ihr unerträglich.
(Selbst)Verrat
Sie würde es als den Verrat an ihm empfinden, den er an ihr begangen hat. Obwohl Elke physisch erwachsen ist, ist sie psychisch noch immer das kleine Mädchen, das dem System gegenüber mehr Loyalität als sich selbst zeigen muss.
Andere MindMates “ersetzen” Vater oder Mutter durch andere Menschen, die sie unbewusst an ihre Eltern erinnern. Letztendlich ist das der verzweifelte Versuch, eine Vergangenheit zu reparieren, die man selbst gar nicht kaputtgemacht hat, sondern die einen selbst kaputtgemacht hat.
Ohne es zu realisieren, geben MindMates so anderen die Möglichkeit, Salz in offenen Wunden zu streuen. Und deshalb können diese schmerzhaften Verletzungen nicht heilen.
(Mögliche) Ursachen
Warum können wir bei anderen so klar erkennen, wie sie sich verhalten müssten? Und warum können wir uns – selbst wenn wir es bezogen auf uns selbst erkennen – häufig nicht entsprechend verhalten?
Auch hierfür gibt es eine Erklärung, die in Bezug zu Traumata steht. Denn diese beeinflussen unsere sogenannte Reaktionsflexibilität. Das ist – vereinfacht gesagt – die Fähigkeit frei zu entscheiden, wie wir auf eine Situation reagieren.
Menschen werden nicht mit dieser Reaktionsflexibilität geboren, sondern sie entfaltet sich mit der Entwicklung des Gehirns. “Je früher ein Trauma einsetzt und je schwerwiegender es ist, desto weniger Gelegenheit hat die Reaktionsflexibilität, sich in den entsprechenden Gehirnschaltkreisen zu verankern, und desto schneller wird sie deaktiviert.
Man verfällt in vorhersehbare, automatisierte Abwehrreaktionen, vor allem wenn man Stressfaktoren ausgesetzt ist. Sowohl emotional als auch kognitiv verengt sich unser Bewegungsspielraum. Je schwerer das Trauma ist, desto enger sind die Grenzen gesetzt. Die Vergangenheit kapert und vereinnahmt wieder und wieder die Gegenwart”, erklärt Gabor Maté.
FrauenLeiden
Erschwerend kommt hinzu, dass wir Frauen anders sozialisiert wurden. Auch heute beobachte ich noch, dass Mädchen für das Lieb- und Bravsein, für das verständnisvolle Funktionieren und Zurückhalten, “belohnt” werden. Dr. Julie Holand sagt dazu, dass “Frauen ihren Ärger zum Nachteil ihrer Gesundheit unterdrücken.”
Sie erklärt: “Wenn man immer nett und freundlich zu sein hat, bleibt kein Platz für schlechte Gefühle. Wenn wir nicht einmal wissen, dass wir wütend sind, können wir nicht mit der verantwortlichen Person sprechen oder das Problem anderweitig angehen. Wir weinen, wir essen, wir besänftigen uns auf tausend verschiedene Arten.”
Und ein weiterer Punkt ist die permanente Sexualisierung von Frauen. Die Soziologin Gail Dines meint: “Mädchen müssen mit einer toxischen Verknüpfung von Sexualität und Unterwerfung fertigwerden. Sie werden dazu ermutigt, sich als sexuelle Wesen zu betrachten, und zwar nicht im Sinne eines natürlich auftretenden Selbstausdrucks, sondern als Mittel, um einen Partner anzuziehen und zu halten, oder als Möglichkeit, sich in einer Machtstruktur, die von Unterdrückung geprägt ist, zu >ermächtigen<."
Überlastung
Diese “Dreifachbelastung” durch Trauma, Sozialisation und Sexualisierung erklärt für mich, warum signifikant mehr Frauen als Männer bulimisch oder magersüchtig sind. Und für Gabor Maté ist darin auch die Ursache des Phänomens begründet, dass mittlerweile deutlich mehr Frauen als Männer an Autoimmunerkrankungen leiden. Eine genetische Erklärung kann es dafür, laut Matè, nicht geben.
Außerdem erklärt sich meiner Meinung nach dadurch auch die sogenannte Stutenbissigkeit unter Frauen. Frauen neigen dazu, “die Schuld” bei sich selbst oder bei anderen Frauen zu finden. Das trifft besonders auf die Frauen zu, die erfahren haben, dass sie nur eine (Überlebens)Chance haben, wenn ihre Loyalität den Männern gilt.
Die Belastung kann noch größer werden, wenn Frauen zusätzlich noch Rassismus und/oder andere Formen der Benachteiligung erleben. Auch das Mutterwerden kann ein weiterer “Schuldenfaktor” werden. Denn den Begriff Rabenvater gibt es gar nicht in unserem Sprachgebrauch. Und das, obwohl über 82% der Alleinerziehenden in Deutschland Frauen sind.
Und gerade weil wir theoretisch heute “alles” haben können, bedeutet das für zu viele Frauen, dass sie “alles” (Haushalt, Erziehung, Berufstätigkeit) selbst machen (müssen). “Wir sollen arbeiten, als hätten wir keine Kinder und wir sollen uns so um die Kindern kümmern, als hätten wir keine Arbeit” las ich kürzlich irgendwo im Internet.
Nahrung für Schuld und Schmerz
Jedes Mal, wenn Elke das Haus ihres Vaters verlässt, ist ihr Inneres in totalem Aufruhr. Während sie ihm gegenüber stumm geblieben ist, brav funktioniert und die Zähne zusammengebissen hat, braute sich emotional etwas in ihr zusammen. Elke ist wütend, schämt sich und fühlt sich schuldig:
- Wieso kann ich noch immer nicht besser mit der Situation umgehen?
- Was ist so schrecklich falsch mit mir?
- Warum bin ich nicht so, wie er mich gerne hätte?
- Weshalb will ich immer noch so sein, wie er mich gerne hätte?
- Wann werde ich endlich begreifen, dass er sich nicht ändert?
- Wie blöd bin ich eigentlich?
- etc.
lauten einige der Vorwürfe ihres zerfleischenden Selbstgesprächs. Vorwürfe, die ihr Kopf permanent wiederkäut, und die Druck, Enge und Anspannung in ihrem Körper – zusammen mit einem negativen Gefühlscocktail – verstärken.
Dem kann sie kurzfristig nur entkommen, indem sie sich einen Rückfall in die Bulimie “gönnt”. Doch nur, um danach noch wütender auf sich selbst zu sein, sich noch mehr zu schämen und sich noch schuldiger zu fühlen.
Irgendwann später nimmt sich Elke dann zum tausendsten Mal vor, kommende Woche perfekt mit der Situation und dem Vater umgehen zu können und danach keinen Rückfall zu haben …
Und das, was so dringend nötig wäre, was Elke für andere im Übermaß bereithält, hat sie für sich selbst nicht: nämlich Mitgefühl. Doch auch das ist laut Gabor Maté eine Trauma-Folge: nicht oder kaum vorhandenes Selbstmitgefühl.
Trägt der Erwachsene die Verantwortung?
Eigentlich sollten Erwachsene die Verantwortung für ihr Verhalten tragen können. Eigentlich. Doch wie wir am Beispiel von Elke sehen können, sind viele äußerlich Erwachsene innerlich hungrige Kinder. Sie hungern nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Und sie glauben, dass sie beides nur von außen und nur für Äußerlichkeiten wie Aussehen und/oder Leistung bekommen können.
Und wenn wir noch eine Generation weiter zurückgehen, werden wir wahrscheinlich Ursachen dafür finden, warum in Elkes Vater ein verletzter kleiner Junge steckt, der eine andere (Überlebens)Strategie entwickelt hat. Denn auch das eher typisch männliche Verhalten der permanenten Selbstbeweihräucherung – laut Maté eine Flucht von der Scham in schamlosen Narzissmus – kann eine Traumafolge sein.
Doch letztendlich hungern auch diese Menschen permanent nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Und deshalb geben sie sich beides in einem ungesunden und unrealistischen Übermaß selbst. Frei nach dem Motto “Ich kann alles, ich weiß alles, ich habe immer recht, denn ich bin der Beste, Tollste und Größte” beherrschen solche Tyrannen oft (Familien)Systeme.
Auf diese Weise könnten wir uns Generation für Generation zurück arbeiten. Wer ist jetzt also schuld? Adam und Eva? Oder liegt die Ursache im Urknall begründet?
Ent-schuldigen ist die Lösung
Einen “Ur-Schuldigen” zu finden, hilft uns also nicht wirklich weiter. Und selbst wenn wir ihn finden würden, würde es für uns nichts mehr ändern können. Denn wir können Vergangenes nicht rückgängig machen.
Nicht das, was vor 100 Jahren war und nicht mal das, was gestern gewesen ist. Begeben wir uns auf die endlose Suche nach dem einem Schuldigen, bleiben wir das ewige Opfer.
Was wir aber tun können, ist: Wir selbst können dem verletzten Kind in uns die Schuld nehmen. Dazu müssen wir unseren Schmerz zulassen. Und wir müssen verstehen, dass wir getan haben, was wir tun mussten, um überleben zu können. Wir hatten keine Wahl.
Wir mussten das tun, weil andere nicht dazu in der Lage gewesen sind, uns das System, das familiäre Umfeld, zu geben, das wir gebraucht hätten, um ganz wir selbst sein zu können und uns dabei wohl und sicher zu fühlen. Und das hat dazu geführt, dass wir uns bis heute emotional und mental zu oft im Überlebens- und zu selten im Erlebensmodus befinden.
BalanceAkt
Was wir weiterhin tun können, ist: Wir selbst können ein gesundes Gleichgewicht zwischen Selbst und System herstellen, indem wir lernen, uns erwachsener zu verhalten und Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir heute die Wahl haben, die wir früher nicht hatten.
Auch wenn es sich aufgrund unserer Vergangenheit heute noch häufig so anfühlt, als hätten wir keine Wahl. Und um das zu können, brauchen wir Selbstmitgefühl. Denn wir sind nicht daran schuld, dass wir es nicht können. Die Umstände, unter denen – und die Menschen, mit denen – wir groß geworden sind, sind die Verursacher.
“Es ist nicht nur notwendig, auf dem Weg zur Heilung Schuld und Schuldgefühle hinter sich zu lassen, von der Selbstanklage zur Neugierde zu gelangen, es ist auch möglich”, sagt Maté dazu. Selbstverständlich ist es wichtig, sich die W-Fragen – wie: Warum verhalte ich mich in Situation XY so? – zu stellen.
Doch entscheidend dabei ist, wie wir uns diese Fragen stellen. Sind wir wirklich neutral und offen, oder fragen wir uns vorwurfsvoll und anklagend? Auch deshalb ist es so hilfreich, “die Wohlwollende” in uns bewusst zu etablieren und “die Unmögliche” auf Diät zu setzen.
Entschuldigen heißt Entlasten
In Elkes Fall könnte das beispielsweise so aussehen:
Sie könnte – streckenweise mithilfe einer Therapeutin etc. – ihren Schmerz zulassen, darüber reden und schreiben, ihn fühlen. Dieser Prozess braucht Zeit. Dabei werden wahrscheinlich viele Tränen fließen und verschüttete Erinnerungen auftauchen. Das könnte ihr helfen, nicht nur intellektuell, sondern vor allem emotional zu fühlen, dass ihr Vater sich dem Mädchen, das sie gewesen ist, nicht angemessen gegenüber verhalten hat.
Zwar konnte er für Nahrung und Unterkunft sorgen. Doch weder konnte er ihren emotionalen Hunger stillen noch ihr genügend sicheren Freiraum geben. Aber genau das wäre auch seine Aufgabe gewesen. Eine Aufgabe, die heute nur noch von Elke selbst übernommen werden kann. Denn jetzt geht es für sie darum, ihren emotionalen Hunger selbst zu stillen und ihrem Selbst genügend Freiraum zu geben.
Das könnte beispielsweise beinhalten, dass sie zu ihrem Vater sagt: “Ich werde dir nicht mehr in Garten und Haushalt helfen. Deshalb habe ich dir jemanden organisiert, der wöchentlich kommen kann und den du dafür bezahlen musst.”
Die SchuldenFalle
Will der Vater das nicht, und fängt an zu meckern und mit Vorwürfen im Sinne von “Ich habe alles für dich getan und so dankst du es mir?!” um sich zu werfen, ist es Elkes Aufgabe zu erkennen: “Nein, leider hat er eben nicht alles für mich getan, er konnte es offensichtlich nicht. Und das muss er nicht erkennen oder verstehen. Doch ich kann es.”
Das Paradoxe daran ist ja Folgendes: Es wird ein Übermaß an Dankbarkeit für Vergangenes verlangt, während gleichzeitig keinerlei Dankbarkeit für Gegenwärtiges gezeigt wird. Oder anders gesagt: Der Vater verlangt von Elke Dankbarkeit für etwas, das er nicht sonderlich gut hinbekommen hat. Während es ihm gleichzeitig überhaupt nicht in den Sinn kommt, Elke Dankbarkeit für etwas zu zeigen, was sie für ihn tut und gut hinbekommt.
Es herrscht also ein großes Ungleichgewicht in dieser Beziehung, dessen Verursacher der Vater ist. Und Elke kann die Balance nicht herstellen, indem sie versucht, es ihm recht zu machen, sondern indem sie beginnt, es sich selbst recht zu machen. Elke darf erkennen, dass ihr Verhalten nicht egoistisch ist, sondern dass sie Verantwortung für sich selbst übernimmt, indem sie sich (selbst)schützt.
(Selbst)Heilung
Weder bei (Ess)Problemen noch bei anderen Kompensationsmethoden geht es um die Abhängigkeit von der Droge “unserer Wahl”. Die Droge, bzw. Kompensationsmethode, ist nur ein Symptom. Es geht darum zu verstehen, dass Kompensationsmethoden ein verzweifelter Versuch sind, den Schmerz zu betäuben, der entstanden ist, als wir unser authentisches Selbst, den Menschen, der wir im Kern sind, aufgeben mussten.
Und es geht darum zu begreifen, dass Kompensationsmethoden kurzfristig durchaus funktionieren, aber langfristig gesehen den Schmerz nähren. Kompensationsmethoden haben also nichts mit einem Mangel an Disziplin oder Willenskraft zu tun. Sie sind (Überlebens)Strategien, Betäubungsmittel, um den Schmerz eine Weile nicht spüren zu müssen.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir den Schmerz nur lindern und irgendwann loswerden können, wenn wir uns unser authentisches Selbst zurückholen. Wir können es nähren und ihm ausreichend Raum geben. Bis es ein gesundes Gegengewicht zu sämtlichen Systemen (Familie, Arbeit, Freunde, Gesellschaft) ist. An diesem Punkt angekommen geht es nur noch darum, diese Balance zu halten.
„Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe“, würde Pippi Langstrumpf dazu sagen.
Mind the guilt.
MindMuse Simone
P.S.: Alle Zitate – außer dem von Pippi – stammen aus dem New York Times Bestseller “Der Mythos des Normalen” (Werbung: Link führt zu Amazon.de) von Dr. Gabor Maté.