Dieser eine Tag

Es gibt ihn jedes Jahr im September, diesen einen Tag, an dem ich mich erinnere.

Gestern war dieser Tag. Ich war morgens spazieren und die Sonne war schon zu erahnen, versteckte sich aber noch hinter dem Morgennebel. Und durch den Tau sichtbar gemacht, sah ich am Rand des Weges und in den Wiesen Tausende von Spinnennetzen.

Jedes Jahr erinnert mich dieser Tag an einen ähnlichen Tag vor vielen Jahren im Allgäu. An diesen Ort, an den ich ging, weil es alleine nicht mehr weiter ging.

Meine Kapitulation bestand in dem Eingeständnis, dass ich trotz aller Bemühungen nicht alleine mit der Essstörung klarkam. Ein Eingeständnis, das ich mir zu Beginn der Bulimie nicht hätte vorstellen können. Denn ich fand so peinlich, was ich da heimlich tat, tun musste. Dass die Heimlichkeiten und Peinlichkeiten mich immer tiefer in diese Abwärtsspirale schlittern ließen, begriff ich erst später.

Mein erster wichtiger Schritt war der in eine Selbsthilfegruppe (OA). Dort erlebte ich erstmalig eine andere Form der Erleichterung, nämlich das “verbale Auskotzen” (reden) und zuhören. Denn ich begann dadurch besser zu verstehen, warum ich tat, was ich tat und dass ich nicht die einzige “Verrückte” war, die so tickte. Diese Erfahrungen ermöglichten es mir, den nächsten Schritt zu gehen.

Und das war die bewusste Entscheidung, in die Hochgratklinik zu gehen. Diese zwölf Wochen im Allgäu waren – wie ich nicht müde werde zu erwähnen – eins der größten Geschenke, das ich mir jemals gemacht habe. Denn ich bin mir sicher, dass diese intensiven und heilsamen Erlebnisse mir eine Abkürzung meines Genesungsweges ermöglicht haben.

Es war keine einfache Zeit. Das Auseinandersetzen mit mir selbst, mit meiner Geschichte, erforderte viel Mut, Offenheit und Ehrlichkeit. Und nicht alles, was ich (über mich) erfuhr, war schön. Doch erstens wollte ich es unbedingt und zweitens war es mir in diesem sicheren Rahmen möglich.

Tagtäglich erlebte ich, wie Menschen sich öffnen, ihre verborgensten Gedanken und intensivsten Gefühle teilten und zeigten. Tag für Tag erkannte ich, dass ich sie dafür bewunderte und nicht verurteilte. Und tagtäglich erkannte ich mich in ihnen wieder. Die Geschichten waren unterschiedlich. Doch die Gedanken und Verhaltensmuster dahinter waren ähnlich. Diese Menschen waren wie ich und ich war wie sie.

Und dann konnte ich es irgendwann sehen und verstehen: Wenn ich wie die anderen war und die anderen trotz allem, was ich über sie wusste, mochte, dann bedeutete das doch, dass ich mich auch selbst mögen kann.

Mehr und mehr begann ich – jenseits meines Verstandes zu begreifen – dass ich nichts Besonderes war. Ich war nicht besonders krank, verrückt, schlecht, undiszipliniert oder mangelhaft. Wie alle anderen auch glaubte ich – aufgrund meiner Geschichte – lediglich, besonders falsch zu sein.

Weil dieser Ur-Glaubenssatz “Ich bin nicht gut genug” so schmerzhaft und stressauslösend war, entwickelte ich die Essstörung als Überlebensstrategie, mit deren “Hilfe” ich mir wiederum beweisen konnte, dass ich wirklich nicht gut genug war. Das ist das Musterbeispiel einer selbsterfüllenden Prophezeiung.

Und auch ein – in seiner Absurdität – durchaus logischer Teufelskreis. Denn wie alle anderen Kompensationsmethoden “funktioniert” die Droge Essstörung kurzfristig, sie lenkt ab, betäubt und entspannt, während sie langfristig genau das Gegenteil bewirkt.

Im Allgäu gehörte es zum Klinikalltag, jeden Morgen schweigend mit den anderen die sogenannte “Bachrunde” zu gehen. Das ermöglichte es uns, gemeinsam mit den anderen ganz bei uns selbst zu sein. Denn wir redeten nicht miteinander, gingen aber zusammen.

Und während dieser Runde gab es für mich zum ersten Mal bewusst diesen einen Tag, den Tag “der Spinnennetze im Morgentau”. Es war ein Morgen, in dem in mir und außerhalb von mir Frieden herrschte. Ich war als Teil der Natur in der Natur, ich war ein Mensch unter Menschen.

Zum ersten Mal erlebte ich bewusst, wie es ist, ganz ich selbst zu sein und mich gleichzeitig zugehörig zu fühlen. Und etwas in mir ahnte: Wenn ich das hier kann, kann ich das irgendwann “da draußen” auch.

Solltest du selbst in diesem Teufelskreis stecken, wünsche ich dir von Herzen diesen einen Tag. Denn er war entscheidend für den anderen.

MindMuse Simone