Die einundsiebzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Das Jahr 2017 ist und wird für mich ein besonderes Jahr.

Das habe ich bereits gespürt, als sich das alte zu Ende neigte. Im vergangenen Jahr fing ich an, mich mehr und mehr mit mir selbst auseinander zu setzen, mein Leben (so trivial das mit schnuckeligen 23 Jahren auch klingen mag!) zu reflektieren und den Ursachen meiner Essstörung auf den Grund zu gehen. 2016 war gekennzeichnet von Hochs und Tiefs, wobei vor allem letztere extrem viel Raum einnahmen.

Dabei fing alles so rosig an. Ich war in einer (vermeintlich) glücklichen Beziehung, trat mein Praktikum in der Unternehmenskommunikation eines doch sehr namhaften Unternehmens an und auch aus sportlicher Sicht lief es wie geschmiert. Eine Zeit lang hielt dieser „Flow“ auch an. Endlich durfte ich einmal Arbeitsluft schnuppern, das Gefühl produktiv und nützlich zu sein spornte mich an. Und all meine Schaffenskraft auch noch in einen Bereich zu stecken, der mir liegt und in dem ich gut bin, verlieh mir ein unglaubliches Hochgefühl. Denn beim Schreiben, Recherchieren und der Arbeit mit Texten fühle ich mich wohl und vollkommen in meinem Element.

In meiner Freizeit spiegelte sich dieser Fleiß und Ehrgeiz ebenfalls wider: Ich meldete mich für einen Halbmarathon im Frühling an und steckte sehr viel Disziplin und Härte in die Vorbereitung dafür. Oftmals schleppte ich mich noch um 21 oder 22 Uhr abends ins Fitnessstudio, nur um meinem mir selbst auferlegten Trainingsplan gerecht zu werden. Ich erntete enorm viel Kritik für meinen Ehrgeiz, positive wie negative. Wirklich interessiert hatte ich mich aber nur für die positive. „Wow, Wahnsinn wie muskulös du bist.“ „Deine Disziplin hätte ich auch gerne.“ „Du bist so fit.“ Das spornte mich natürlich an.

Ich suchte förmlich die Bestätigung von außen und badete regelrecht in diesen positiven Worten. Meine damalige Beziehung lief mehr oder weniger nebenher. Ich redete mit meinem Ex-Freund nur über meine Arbeit oder mein Training. Und wenn ich nicht direkt darüber erzählte, so kreisten meine Gedanken zumindest ständig darum. Die Beziehung selbst erfüllte mich schon lange nicht mehr bzw. heute frage ich mich, ob sie das jemals tat. Vermutlich ließ ich mich bloß auf die Beziehung ein, weil es mir irgendwie gut tat, Sicherheit und Geborgenheit gab.

Im Sommer baute sich dann zunehmend eine Art Widerstand und ein innerer Zwiespalt in mir auf. Ich gestand mir ein, dass ich ihn nicht liebte bzw. einfach nie geliebt habe. Unsere Beziehung war für mich eine reine Zweckgemeinschaft. Ich kapselte mich ab, verschloss mich ihm gegenüber und konnte ihm (und mir!) eigentlich nicht länger etwas vormachen. Nach zwei kläglich gescheiterten Anläufen, die Beziehung irgendwie zu retten, fand ich schließlich den Mut, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. „Endlich bin ich frei! Das Leben kann beginnen.“, dachte ich. Anfangs war das auch so. Ich traf mich mit Freundinnen, ging aus, kochte gerne, trieb Sport und genoss (zumindest kurzzeitig) das Leben. Selbst einen schweren Schicksalsschlag in meiner Familie überstand ich ohne Rückfall und so lebte ich tatsächlich ein oder zwei Monate frei von Essanfällen.

Für eine Zeit lang redete ich mir sogar ein, ich hätte mein kritisches Verhältnis zum Essen überwunden. Ja, ich nenne es jetzt bewusst „kritisches Verhältnis“, denn im Sommer vergangenen Jahres wollte ich mich keinesfalls mit einer Essstörung identifizieren. Ich doch nicht. Jeder andere, aber ich nicht. Mir war sehr wohl bewusst, dass ich ein riesengroßes Problem hatte, aber meine Strategie lautete VERDRÄNGEN. Und darin war ich sogar ziemlich gut.

Jedenfalls bekam ich nach den sechs Monaten mein Praktikumszeugnis ausgestellt. Und ehe ich mich versah, fand ich mich blitzartig wieder in alten Mustern. Ich katapultierte mich wieder in die Esssucht. Insgesamt betrachtet fiel der Bericht gut bis sehr gut aus, lediglich in einem Punkt erhielt ich eine befriedigende Beurteilung. Und dieser eine Aspekt haute mich damals so dermaßen um. All meine negativen Glaubenssätze meldeten sich also zurück. „Du bist nicht gut genug.“ „Du kannst nicht mit Menschen kommunizieren.“ „Du bist unbeliebt.“ Für mich stand fest: Jetzt habe ich es schwarz auf weiß. Ich bin nicht gut genug. Meine negativen Glaubenssätze, die mein inneres Kind verinnerlicht hat, wurden bestätigt und mir wurde richtiggehend der Boden unter den Füßen weggezogen.

Seit dieser Erfahrung erlebe ich ständige Auf und Abs der Gefühle.

Mal könnte ich schreien vor Freude, ganz häufig bin ich jedoch traurig. Und dennoch ist da die Hoffnung in mir, dass sich schließlich doch noch alles zum Guten wendet. Ich sehe es schon als wichtigen und positiven Schritt, dass ich mir meiner Essstörung bewusst bin, sie nicht weiter verdränge. Mir fehlt zwar der Mut, offen darüber zu reden, aber ich informiere mich sehr viel und beschäftige mich mit Themen wie „Persönlichkeitsentwicklung“ und „Ursachenforschung“. Denn eines weiß ich gewiss: Die Essstörung selbst ist nicht das Problem. Die eigentliche Ursache liegt viel tiefer.

So wurde ich beispielsweise in meiner Kindheit sehr stark kontrolliert und hatte in vielen Dingen nur wenig Freiraum. Meine Mama war grundsätzlich sehr streng und akzeptierte oft kein Nein. Wenn ich ihren Erwartungen entsprach, d.h. möglichst gute Noten erzielte, im Tennis erfolgreich war, fleißig, strebsam und wenig aufmüpfig war, so fühlte ich mich von ihr geliebt und konnte mir ihrer Wertschätzung sicher sein. Mittlerweile weiß ich, dass diese Art von Erziehung in mir oder vielmehr in meinem inneren Kind die Glaubenssätze „Ich muss alles richtig machen!“, „Ich muss die Beste sein!“, „Ich muss deine Erwartungen erfüllen!“ manifestiert haben. Diese kommen auch in meinem erwachsenen Ich noch ständig zu tragen und sind allgegenwärtig. Wenn ich erfolgreich war oder Dinge geschafft habe, so erfülle ich diese Glaubenssätze. „Versage“ oder „scheitere“ ich, so fühlt sich mein inneres Kind gekränkt und wertlos. Statt mich mit dem Problem oder eher meinem traurigen Schattenkind zu beschäftigen, lasse ich es links liegen und ignoriere es, indem ich woanders Schutz suche: im Essen. Essen stellt keine blöden Fragen, Essen antwortet nicht und Essen verurteilt nicht.

Letztendlich ist mir im Moment vor allem eine Sache klar: Dieser vermeintliche (!) Selbstschutz führt gewiss nicht zu einem Leben in Fülle und Freude, wie ich mir es mir so sehr wünsche. Ich weiß, dass ich raus will aus der Sucht nach Essen, ich will ein Leben voller Fülle und Lösungen. Dazu brauche ich Hilfe und guten Rat. Ich denke gerade sehr viel über mögliche Lösungen nach, möchte mir aber Zeit geben, die richtige Entscheidung zu treffen. Ist es gut, mein Elternhaus zu verlassen und meinen Studienort zu wechseln? Da ist zum einen der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, zum anderen aber auch die Angst, auf mich alleine gestellt zu sein.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone