Die einundachtzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
“Simone, dein Blog hat mir nicht nur geholfen, er hat mir den “Aha-Moment” verschafft. Ich werde jetzt gesund, ich weiß es. Ich fange ehrlich und aufrichtig an, mich selbst zu lieben, mir zu verzeihen und mich einer Heilung zu öffnen. Ich möchte meine Geschichte auch mit den anderen teilen:”
Wenn du beginnst, dich zu lieben…
Ich möchte eine andere Geschichte erzählen, nicht die meiner Vergangenheit; nicht darüber reden, was alles schief lief in meiner Kindheit. Ich brenne darauf, euch zu erzählen, wie ich gesund werde.
Mit meinen 19 zarten Jahren habe ich bereits zwei Semester Biologie studiert und warte jetzt sehnlichst auf meine Zusage zum Medizinstudium. Warum ich Ärztin werden will? Bis vor Kurzem, um mir als Psychiaterin selbst aus der Krise zu helfen, nun vor allem, um anderen den Leidensdruck zu nehmen.
Bis vor Kurzem war auch die Angst, keinen Studienplatz zu ergattern so groß, dass ich nächtelang weinend in meinem Bett lag. Jetzt habe ich die Initiative ergriffen, und mir einen wunderbaren Plan B überlegt. Außerdem scheine ich verinnerlicht zu haben, dass mich ein Beruf, den vor allem meine Eltern gern sehen wollen, sowieso nie vollends erfüllen könnte. Die Erwartungen der anderen, vor allem diese meines Vaters zu erfüllen, schien mir immer das Mantra im Leben. Jedoch haben meine Eltern nie Forderungen gestellt, ich habe meine eigenen nur auf sie projiziert und mir somit selbst eine nie zu erreichende Messlatte gelegt.
All das hängt sehr stark mit meiner Essstörung zusammen.
Ich hatte nie starke Gewichtsschwankungen, blieb die Zahl auf der Waage doch stets im Bereich zwischen 46 und 50kg, ich war nie stark untergewichtig, doch gehungert und gekotzt habe ich was das Zeug hielt. Ich war jedoch stets so diszpliniert, dass ich mich nie gehen ließ. Auf der anderen Seite wusste ich um die medizinischen Konsequenzen und diese ließen sich nicht mit der von mir abgeforderten Leistung vereinbaren, so dass ich auch nie ein kritisch zu geringes Gewicht errreichte.
Ich wollte schließlich funktionieren, also wanderte ich Tag für Tag diesen schmalen Grad. Das ist nicht lang her, kaum eine Woche und doch weiß ich, dass ich jetzt gesund werde. Warum ich mir dessen so sicher sein kann? Weil ich endlich etwas verinnerlicht habe, was ich doch schon so lang weiß: “Niemand (auch ich selbst) liebt mich für die Zahl auf der Waage.”
Das ist mein größtes Problem; ich habe mich sehr ausführlich mit der Thematik Essstörung und psychischen Erkrankungen befasst. Ich habe während Klinikaufenthalten und Therapien viel Wissen vermittelt bekommen, aber stets fehlte das letzte Quäntchen: Das Verinnerlichen.
Genau dieser essentielle Schritt ging durch lebenshungrig.de von statten.
Ich habe mir selbst eine Art Mindmap erstellt; aufgelistet sind Dinge, die ich gern an mir mag, auch solche, die ich weniger gern mag. Dinge, vor denen ich Angst habe, Dinge, die ich wieder tun will und Dinge, die ich jetzt hinter mir lassen will. Nach der Vollendung des A3 großen Spiegels sprang mir meine Motiviation, die mich fortan begleiten wird, förmlich ins Gesicht.
Da ist diese eine Person, dieser eine Mensch, der mich so bedingslos liebt, dass ich daraus die Kraft schöpfe, alles ändern zu können. Versteht das nicht falsch, nicht dass ich das für ihn tue. Ich tue das, um den Rest meines Lebens mit ihm glücklich sein zu können. Ihn heiraten zu können, mit ihm eine Familie zu gründen und alt zu werden. Wie sollte ich jemand anders lieben können, wenn ich mich selbst nicht liebe?
Ich will mir dieses Ziel erfüllen, denn die Zeit mit ihm ist es, die mich wirklich erfüllt. Mir ist unabwendbar klar geworden, dass mir weder ein angesehener Beruf, noch Geld, noch mein Aussehen zu einem zufriedenen Selbst verhelfen kann. Ich bin dabei, zuvor falsch vermittelte Selbstbilder und Wertigkeiten zu überwinden und mich meinen Prioritäten zuzuwenden. So beschreibt es auch Hermann Hesse in seinem Werk Demian. Es ist wie die Schale eines Eis, die man als junges Küken durchbrechen muss, um sein wahres Bild zu erfahren.
Das ist leichter gesagt als getan, wenn man jahrelang aktiv gegen seinen Willen angekämpft, sich selbst verleugnet und die Wünsche anderer als die eigenen anerkannt hat. Ich glaube, es ist das Wichtigste, wieder zu sich selbst zu finden, wieder zu spüren, wer man selbst ist und welche Bedürfnisse man hat. Die Essstörung hat mir eine Identität gegeben, ich habe getan, was sie von mir erwartet hat. Ich habe getan, was andere von mir erwartet haben und das war leicht, denn so musste ich keine eigenen Entscheidungen fällen.
Ein älterer Beitrag vergleicht die Essstörung mit einem Zug, in dem es einen Schaffner gibt, der dir vorschreibt, wie viel du isst. Möge das Bild zunächst befremdlich wirken, habe ich doch bemerkt, dass eben genau diese Beschreibung äußerst zutreffend ist. Jedoch habe ich entschieden, jetzt mein eigener Zugführer zu sein. Es hat viele Anläufe gebraucht, doch jetzt übernehme ich das Steuer und lenke meinen Zug dorthin, wo ich es will.
Ihr solltet das auch versuchen, ich bin sicher, ihr schafft es!
PS: An dieser Stelle möchte ich noch einen herzlichen, ehrlichen Dank aussprechen. Dieser gilt Simone und all den Frauen, die sich auf lebenshungrig.de zu Wort gemeldet haben. Ihr habt etwas ausgelöst, das noch kein Therapeut in mir auslösen konnte. Vermutlich hat Simone genau dieses Phänomen gemeint, als sie davon sprach, wie ihr die anderen Patienten in der Klinik vielleicht sogar mehr halfen, als die Ärzte. Ich brenne schon darauf, das auch bald tun zu können. Ich melde mich wieder, wenn es so weit ist.
Bis dahin liebste Grüße und wieder Freude am Leben!
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone