Kathrins Genesungsweg Teil 12: Wut & Vergebung

Im vergangenen Monat ist mir etwas passiert, was mich zunächst völlig verstört hat.

Ich habe beruflich jemanden kennengelernt, mit dem ich auch privat ins Gespräch kam und der sehr schnell auf meine Geschichte hinaus wollte. Ich stehe mittlerweile zu eigentlich allen Facetten meiner früheren Essstörung und hätte ihm bereitwillig erzählt, wartete aber noch ein Weilchen ab. Wir kamen (zufällig) auf seine Mutter zu sprechen. Nicht ansatzweise so viele Emotionen brachte er bei dem Projekt auf, wie als er anfing über sie zu reden. Es scheint als gab es da viele Probleme. Hauptgründe seiner Wut waren seelische Übergriffe in der Kindheit, die es zweifelsohne gab. Da wir alle unterschiedlichste Schmerzgrenzen haben und ich rein zufällig mit meiner Mutter exakt das Gleiche Thema am Rande erlebt habe, ließ ich mich darauf ein. Ich spürte wie ärgerlich und unfrei er war und jetzt – nachdem das Projekt – gelaufen ist, weiß ich was ihm fehlt: Vergebung.

Ich bin keine großartige Verfechterin der These „Lass die Kindheit hinter dir“ *– zumal ich glaube, dass bei vielen Essgestörten genau hier der Dreh- und Angelpunkt fürs eigene Verhalten liegt. Bei mir war das beispielsweise unter anderem die übertragene Verantwortung. Ich habe als heranwachsende und erwachsene Frau nicht gelernt zu sagen, wenn mir die Verantwortung zu groß, zu schwierig oder zu ungerecht verteilt ist, im Gegenteil: Ich habe sie gesucht, in Beziehungen, bei der Arbeit, in Freundschaften, nahezu überall.

Als Jugendliche mag ich keine Wahl gehabt haben und diese Störung war fast eine logische Konsequenz. Ich war der festen Überzeugung, sobald ich zum Studium ausziehen würde, wird alles verschwinden. Es gab andere Symptome, die tatsächlich sofort verschwanden, die Essstörung aber blieb, bis ich sie als das annahm was sie war: Ein Indikator für meine seelische Verfassung, für unausgelebte Träume, für ungestrittene Konflikte, für sehr viel Wut, für zu wenig klare Grenzen. Und es gab Momente, da wurde ich wütend auf meine Familie. Und dann gab es den Moment, der sich nicht mehr mit Schuldzuweisungen befasste sondern konstruktiv an der eigenen Genesung orientierte. Unschwer zu erkennen, dass es beide braucht und welche Momente, die heilsameren sind, wenn es um Genesung geht.

Es mag Zufall gewesen sein, aber der junge Mann behandelte fast alle Frauen respektlos, abschätzig und äußerst egoistisch, hielt sich aber für ein großes Geschenk. Ich habe ihm einige Parallelen aufgezeigt und ziemlich viele Witze und humorvolle Beleuchtungen der Situation versucht aufzuzeigen. Das beeindruckte ihn, führte aber (noch) nicht zu dem Punkt, der wichtig ist um frei zu werden.

Manchmal hilft es seine Wut als das zu sehen, was sie ist: Noch nicht verarbeitete Erfahrungen, manchmal unausgelebte Trauer und viel Frustration. Wut kann förderlich sein, weil sie uns die Punkte und Themen und eigenen moralischen Werte aufzeigt. Irgendwann heißt es aber auch hier loslassen und vergeben. Ich glaube zutiefst, dass es sich damit leichter lebt, solange man die anderen Punkte nicht auswischt und überspringt.

 Wie gehst du mit Wut und Vergebung um?