Die Bulimie ist besiegt – aber was ist mit den Ursachen?
Vor einigen Tagen habe ich eine Mail bekommen die sich mit einem Aspekt beschäftigt, der mir selbst auch seit einigen Monaten im Kopf rumspukt:
„Hallo Simone,
genau wie du, habe auch ich (Jg 1971) zahlreiche Jahre mit Magersucht, später Bulimie gelebt. Mit Mitte 30 fand der “Spuk” allmählich, durch zahlreiche, jahrelange Rückfälle unterbrochen, zu einem Ende. Heute, mit 40 Jahren, habe ich keine Rückfälle mehr, fühle ich mich von der Esssucht genesen.
Jedoch holen mich alte Themen wie geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus und damit einhergehende, übermäßiger Strenge mit mir und meinen Mitmenschen immer noch ein.
Und hier geht meine Suche von damals weiter, denn obwohl ich das “Symptom Bulimie” überwunden habe, sind diese alten Themen noch lange nicht überwunden. Sie habe sich im Laufe der Jahre verändert, ja, ich habe sie für mich jedoch noch nicht zu einem guten Ende, zu einem Zustand, der sich für mich (häufig) gut anfühlt, bringen können.
Ich glaube, dass Essstörung nicht dort aufhört, wo sie sich nicht mehr real zeigt. Oder anders: ich will es nicht Essstörung nennen, sondern Ursache für Essstörung. Die Ursache ist noch lange nicht behoben, geheilt, sobald sie sich nicht mehr anhand von Bulimie etc. zeigt. …“
Herausforderungen nach der Bulimie
Wie einige von euch wissen, habe ich mich ja vor ungefähr zwei Jahren in das Abenteuer Selbständigkeit gestürzt und „bastele“ seit dieser Zeit an meinem persönlichen Traumjob. Lebenshungrig.de bzw. die Einkünfte die ich mittlerweile daraus erziele, sind ein Teil davon. Als zweites Standbein gibt es die LifeStylistin.de, die sich im Aufbau befindet. Es hat – in meinen Augen – sehr lange gedauert, bis sich für mich herauskristallisiert hat, wo meine Reise mit der LifeStylistin konkret hingehen soll. Innerhalb dieser Monate ist mir bewusst geworden, dass in dieser Situation voller Unsicherheit die Themen Selbstwertgefühl und Perfektionismus auch bei mir nicht völlig Geschichte sind.
Während ich in vielen Bereichen ausreichend Selbstwertgefühl habe und daher auf Perfektionismus verzichten kann ;) , bin ich mit der Herausforderung Selbständigkeit immer mal wieder an meine Grenzen gestoßen.
Interessanter Weise ist mir während dieser Zeit mal wieder das Buch über Bulimie Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen: Bulimie – verstehen und heilen (Affiliate-Link zu Amazon.de) von Maja Langsdorff in die Hände gefallen. Ich schlug es auf und landete auf zwei Seiten, die ich vor einigen Jahren ziemlich stark mit einem grünen Textmarker malträtiert hatte:
„… Die Suchtkrankheit Bulimie gedeiht also offenbar auch oder gerade in der äußerlich intakten Welt der Familie. Das ist nicht weiter erstaunlich: Wie ein roter Faden zieht sich das ambivalente Streben nach Anpassung und Bindung („Normalität“) einerseits und Ausbruch andererseits durch die Biografie der Betroffenen. Besonders charakteristisch ist für Frauen mit Bulimie der hohe Anspruch an sich selbst und die abgrundtiefe Angst, sie könnten sich vor anderen eine Blöße geben und damit als „schwach“ und „makelbehaftet“ dastehen. Die verbreitete Annahme, Süchtige müssten labile Persönlichkeiten und schwache Charaktere sein, trifft auf Frauen mit Bulimie nicht zu. Sie erscheinen ausgesprochen willensstark, zielstrebig, selbstbeherrscht und ehrgeizig. Als hochgradig neurotische Persönlichkeiten sind sie oft übersensibel und sehr intelligent und ideenreich. Aus einem psychisch bedingten Minderwertigkeitsgefühl heraus entwickeln sie einen unglaublichen Perfektionismus.
Durch die extrem überzogenen Ansprüche an die eigene Person leben Frauen mit Bulimie in einer Situation ständiger Selbstüberforderung und sind zur realitätsbezogenen Selbsteinschätzung unfähig. Aus dem Geltungsdruck, mit dem sie sich in der Kompensation ihrer Minderwertigkeitskomplexe üben, erbringen sie Höchstleistungen und staunen ungläubig über die eigenen Fähigkeiten. Immer sind ihre Ziele zu hoch gesteckt. Fast immer erreichen sie diese Ziele dennoch. Typisch für Frauen mit Bulimie ist eine äußerst geringe Frustrationstoleranz. …“
Diese Beschreibung traf früher zu 99% auf mich zu. Was davon ist – in Bezug auf meine Selbständigkeit – noch übrig?
Das gleichzeitige Streben nach Anpassung und Ausbruch:
Diese Ambivalenz hat mich lange zögern lassen lassen, bis ich mich endlich selbständig gemacht habe. Mein Elternhaus ist sehr stark sicherheitsdenkend geprägt. Und so machte ich auch eine Ausbildung im Öffentlichen Dienst und fand es ganz schrecklich – eine Hoch-Zeit meiner Bulimie, übrigens. Nach und während des Studiums habe ich nie länger als drei Jahre dieselbe Stelle gehabt. Immer wieder kam ich nach der Eingewöhnung an den Punkt, dass ich mich langweilte und mich gewisse Dinge störten bzw. ich mich eingeschränkt fühlte. Schon während meines Studiums war Unternehmensgründung ein Fach, das mich faszinierte. Bis ich allerdings den endgültigen Sprung wagte und mich von dem Gedanken verabschiedete, das man einen „normalen“ Job haben muss, dauerte es weitere zehn Jahre. Während der letzten zwei Jahre geriet ich immer mal wieder ins Wanken, aber letztlich hat sich das Gefühl gefestigt, dass die Freiheit der Selbständigkeit mir innere Sicherheit schenkt.
Frauen mit Bulimie sind überdurchschnittlich sensibel, intelligent und ideenreich:
Überdurchschnittlich sensibel zu sein hat früher dazu geführt, dass ich stark mit anderen fühlte und litt und generell sehr viel dafür tat, andere glücklich zu machen. Natürlich war mir auch die Meinung anderer über mich wichtiger als meine eigene. Dieses Verhalten war pure Nahrung für die Bulimie…
Heute hilft mir diese Sensibilität bei meiner Arbeit und auch wenn ich noch sehr mitfühlend bin, kann ich mich mittlerweile so gut abgrenzen, dass ich nicht mehr (mit)leide. Intelligenz und Ideenreichtum können nie schaden wenn man sich selbständig macht ;)
Minderwertigkeitsgefühle als Ursachen für Perfektionismus:
Minderwertigkeitsgefühle und daraus resultierender Perfektionismus sind mir während der letzten zwei Jahre immer mal wieder begegnet. So neige ich z. B. dazu, mich mit Menschen zu vergleichen, die schon viel länger Selbständig sind als ich. Beispiel: Lese ich einen Blogbeitrag und sehe, dass der häufig kommentiert, getweetet, geliked etc ist, springt diese Minderwertigkeitsmaschine an. Aber ich habe eine Strategie dagegen entwickelt, die ich „Business-Archäologie“ nenne. D. h. ich grabe mich z. B. in diesem Blog an die Anfangszeit vor und siehe da, dort gibt es kaum Kommentare, Tweets und Likes etc. Dieses Verhalten erinnert mich an das frühere Vergleichen von Figuren. Ich suchte mir immer nur Frauen aus, die noch dünner waren als ich…
Überforderung gepaart mit einer geringen Frustrationstoleranz:
In Bezug auf die Selbständigkeit überfordere ich mich sicherlich noch manchmal durch die hohen Erwartungen, die immer mal wieder auftauchen. Meine Frustrationstoleranz schätze ich allerdings mittlerweile reicht hoch ein.
Persönliches Danach-Fazit:
Auch Jahre nach der Bulimie werde ich immer mal wieder – besonders in extremen Situationen – mit diversen Ursachen der Bulimie konfrontiert. Selbstwertgefühl ist dabei ein ganz zentrales Thema. Aber ich kann heute viel besser damit umgehen als zu meinen Bulimie – Zeiten. Außerdem bedeutet gesund sein für mich nicht, sich ständig nur gut und toll zu fühlen, sondern angemessen mit der aktuellen Lebenssituation umgehen zu können. Das wiederum führt durchaus häufig dazu, dass ich mich gut und toll fühle.
Wenn die Bulimie vorbei ist, ist das Auseinandersetzen mit sich selbst noch lange nicht vorbei – aber es wird immer einfacher!
Wie seht ihr das?